Gerry Nestler hat ein Vermittlungsproblem. Die meisten Menschen verstehen seine Kunst einfach nicht. Das ist nicht als Ausdruck der Überheblichkeit eines möchtegern-elitären, pseudo-intellektuellen Rezensenten zu verstehen, es ist vielmehr durchaus verständlich. Der Mann liefert nämlich nie Dinge ab, die in irgendeine Kategorie passen und setzt sich nach dem Ende der unterschätzten Stil-Enzyklopädie CIVIL DEFIANCE auch mit KKLEQ MUZZIL wieder gezielt zwischen alle Stühle. Das bedeutet, wer immer Musik um der bloßen Zerstreuung willen hört, dem werden Nestlers Kompositionen, egal aus welcher Band, vermutlich schnell auf die Nerven gehen. Auch „M“ gehorcht keiner Formel, es schreibt seine Formel selbst. Wer also Freude am Erschließen von Neuem, am Knacken sperriger Formate und am Nachvollziehen von durchaus auch mal etwas kruden Schlenkern der Inspiration findet, dem eröffnet sich hier ein weiteres Kleinod der Kategorie „Die besten Bands, die kein Schwein kennt“.
Zunächst einmal stellen KKLEQ MUZZIL eine Besonderheit dar: Sie sind so ziemlich die einzige Band, die sich aus dem Stilbaukasten des Nu-Metal bedienen darf, ohne dass ich sofort kotzen muss. Das liegt eben daran, dass sich der kreative Nährwert hier nicht bei Single-Note-Chugga-Chugga und egozentrisch-selbstverliebtem Freak/Heulsuse-Wechselspiel der Marke Jonathan Davis erschöpft. Hier ist vielmehr alles vorhanden, was dem Nu-Metal grundsätzlich abgeht und man ahnt, was aus dieser Stilistik auch hätte werden können. KKLEQ MUZZIL sind zum Beispiel ernsthaft heftig. So richtig auf die Fresse. Welche Genre-Band ist das schon? Das liegt zum Ersten am völlig unpoppigen, acid-mäßigen Geschrei Nestlers, dem jede Süßlichkeit abgeht. Er geifert und rotzt, flüstert und beschwört, brüllt sich wund, aber eines tut er nie: Rumheulen. Die Gitarren sind genregemäß so tief gestimmt, dass die Saiten durchhängen wie Wäscheleinen, aber so grollend, krachig und böse produziert, wie es noch nicht einmal Ross Robinson in den Anfangstagen dieser Musik auch nur annähernd zustande bekommen hat. Überhaupt ist die extrem unpolierte Direktheit der Produktion einer der Schlüssel zum (kreativen) Erfolg. Denn gesanglich wie auch instrumental wurde viel Wert auf die Wucht des Drecks gelegt. Gitarren, Bass, Schlagzeug und Gesang – die Kratzfrequenzen bleiben drin, es ballert markerschütternd aus allen Rohren. Damit allein kann man freilich den Nu-Metal noch nicht vor der Langeweile retten, und so changiert Schlagzeuger George Hernandez innerhalb des im Kern simplen Geböllers zwischen straightem „Destroy-The-Dancefloor“ und virtuos eingepassten Breakbeats. Und als wolle man nochmal doppelt unterstreichen, dass man mehr zu bieten hat – und vom Hörer auch mehr erwartet – als die Durchschnittscombo auf dem Majorlabel, wird weder vor Blastbeats noch vor minutenlangem Drum’n’Bass mit Spoken Word-Untermalung halt gemacht. Das Ergebnis klingt in leichter verständlichen Momenten wie „Crush Topp“ oder „Joy Bomb“ nach einer entfesselten, der pubertierenden Ichbezogenheit entkleideten Erwachsenen-Version von KORN, die stoisch ausgebreiteten, gitarrenfreien Parts in „Ammoniac“ oder „Gothic Seven“ erinnern an KILLING JOKE, nur eben ohne Gitarre und dafür mit Blastbeats, während die tiefgelegten Riffs gepaart mit Breakbeats zuweilen PITCH SHIFTERs „Infotainment“ aufblitzen lassen (etwa im ultrabrutalen „Salvation“). Das Gitarrenspiel offenbart ebenfalls gewisse Parallelen zum Industrial der KJ/PRONG-Auslegung, fällt also vielschichtiger und inspirierter aus als der Nu-Genremaßstab. All diese Vergleiche bieten aber eine nur unzulängliche Orientierung, zu eigenständig ist das, was auf „M“ passiert.
Und so ist auch die Verwendung des Begriffs „progressiv“ in der Stilbezeichnung zu verstehen. Natürlich klingt hier nichts nach gewissen Gniedelkönigen aus New York, aber erinnern wir uns: Progressive Musik begann mit Truppen wie KING CRIMSON oder GENESIS, die von ausufernder Epik inklusive instrumentaler Selbstbefriedigung bis zu reduziertester Singer/Songwirter-Kunst alle Grenzen ignorierten, alles kombinierten, was sie wollten und so in musikalische Galaxien vordrangen, die nie zuvor ein Mensch gehört hatte. In diesem Sinne sind KKLEQ MUZZIL progressiv, denn Verwechslungsgefahr mit anderen Bands besteht hier mit Sicherheit nie und vor Nestler und seinen Sidekicks hat auch noch keiner einen so spannenden Crossover dieser Elemente hinbekommen, von denen ausgerechnet Nu-Metal eine tragende Rolle spielt.
So stimmig das Konzept ist, so straff und kohärent die Kompositionen, so unorthodox ist das Ganze auch. Hits nach kommerzieller Denkweise fehlen, was keinesfalls heißt, das keine da wären. Doch aufgrund des Gesamtpakets konnte KKLEQ MUZZIL, wie schon CIVIL DEFIANCE, wieder nur wenigen Leuten gefallen, und genau das passierte auch. Kaum jemand nahm im Jahre 2000 Notiz von dieser tollen Platte, weshalb sie auch keine sehr große Verbreitung fand und nicht ganz leicht zu bekommen ist. Doch man bekommt sie, wenn man dran bleibt.
FAZIT: Nur vordergründig simpel, gibt es hier viel zu entdecken, sowohl für aufgeschlossene KORN-Fans wie auch für ebensolche Prog-Fetischisten, die die eigentliche Bedeutung des Begriffs höher bewerten als seine zeitgenössische Auslegung durch zweitklassige Jodel- und Gniedel-Bands.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 23.09.2011
Juan Antonio Perez
Gerry Paul Nestler
Gerry Paul Nestler
George Hernandez
Eigenproduktion
46:15
23.09.2000