„La Vie Electronique 9“ macht konsequent dort weiter, wo Nr. 8. endete. KLAUS SCHULZE entdeckt, erforscht und arbeitet mit digitalem Equipment. Das erweitert die warmen, flächigen Analog-Sounds um eine abstrakte Kälte, die als Kontrapunkt für einige Überraschungen sorgt, aber auch Distanz schafft. Reizt zu Experimenten mit neuen Klängen, die gelegentlich melodische Strukturen fast komplett fallenlassen und die als, fast schon industrielle, Klanglandschaften dastehen. „Kompromisslose Inventions“ ist ein Paradebeispiel dafür und der Titel bereits seine eigene Interpretation. Im – wie üblich – lesenswerten und ausführlichen Booklet wird nicht nur beschrieben, welche Instrumente KLAUS SCHULZE bei derartigen Aufnahmen benutzte (besonders gern den bereits im letzten Review erwähnten Yamaha CS 80), sondern auch welche gemischten Gefühle solche Experimente auf seinen Konzerten hervorriefen: „KS hat vielleicht das Orwell-Jahr missverstanden…“.
Highlight der Box ist die erste CD, auf der ein komplettes Konzert, aufgenommen im Oktober 1982 in Budapest, zu hören ist. Rainer Bloss unterstützt KS an diversen Keyboards, besonders präsent ist er aber am E-Piano. Nicht nur das erweitert „Ludwig Revisted“ (Original zu finden auf dem „X“-Album) um neue Nuancen. „Ludwig Revisted“ ist ein gelungenes Beispiel wie Zeitgeist und (damals) moderne Sounds bekannte Stücke ergänzen und variieren können, ohne sie zu zerstören. Das folgende „Peg Leg Dance“ ist mit seinen scharf programmierten Rhythmen fast so etwas wie ein Techno-Vorläufer. Natürlich ausladender und klanglich wesentlich fabulierfreudiger als der zurecht geschmähte Einheitsbrei weniger begabter Epigonen. Abgerundet wird die etwas flach, aber ansonsten sehr ordentlich klingende Konzertaufnahme durch die viertelstündige Zugabe „Die spirituelle Kraft des Augenblicks“. Liest sich ruhiger als sie ist. Kann man trotzdem bei verharren. Ein Momentchen…
„Seltsam statisch“ ist ein typisches Kind der 80er. Der Sequenzer gibt den dauerhaften Rhythmus vor, und KS untermalt ihn mit ausschweifenden Synthesizer-Kapriolen. Herr SCHULZE besucht KRAFTWERK. Ähnliches gilt für „Verblüffe sie“, das mit pulsierendem Rhythmus beginnt und sich langsam zu einem meditativen Ruhepol wandelt. Quasi von der Stadt auf‘s Land zieht. Prä-Techno goes Chillout-Zone.
Der erste Part des 53-minütigen „National Radio Waves“ heißt nicht ohne Grund „Soundscapes“. So etwas wie die Essenz dieser Jahre. KS probiert aus, wandert etwas ziellos herum, klingt kühler als früher und wechselt von einem, leichte Gänsehaut erzeugenden Spektrum zu nervigeren Tönen, bevor er sich im Folgenden wieder fängt und das lange Stück in melodisch und rhythmisch gefestigtere Strukturen lenkt, gelegentliche Dissonanzen (und aufnahmetechnische Verzerrungen) inklusive. „The Midas Touch“ ist zum Abschluss eines der kärgsten Stücke KLAUS SCHULZEs. Fast ausschließlich ein sich sacht verändernder Rhythmusteppich plus Stimme. Reduktion statt Techno-Bombast.
Und genau das macht die „La Vie Electronique“-Reihe so spannend. Dieses Tastende und gleichzeitig Spielerische; mehr als ein rudimentäres „Work In Progress“ zu sein, aber noch kein fertig ausformuliertes Studiowerk.
Zusätzlich gibt es noch zwei kurze Interviews (oder -Auszüge?), diesmal auf Deutsch. U.a. erzählt KLAUS SCHULZE sehr süffisant und ironisch wie ihm MCHAEL SHRIEVE zu GO-Zeiten den spielerischen Umgang mit dem Sequenzer nahebrachte, und wie SCHULZE den flinken Gitarristen AL DI MEOLA ärgerte, dem er keine große Sympathien entgegen bringt.
Das FAZIT fällt diesmal leicht, findet es sich doch passgenau im Booklet: „Im Rückblick zeigen die Aufnahmen die in diesem Dreier-Set vorgestellt werden, einerseits die Begrenzungen der digitalen Instrumente (im Gegensatz zum „warmen“, aber meist nicht so sauberen Analog-Klang), und andererseits sind da die kreativen Momente. Es ist wie eine musikalische Reise durch eine Epoche, in der Klaus Schulze einige persönliche Probleme hatte, er es aber auch schaffte, kühne Musik zu produzieren, als Kind seiner Zeit.“
„La Vie Electronique 9“ ist kein Album für Einsteiger in die Welt KLAUS SCHULZEs – es sei denn man möchte sich von hinten nähern. Aber einen aufschlussreichen und vor allem zeitgeschichtlich unterhaltsamen Einblick in das Wirken eines außerordentlichen Musikers bietet es allemal.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 10.04.2011
Klaus Schulze, ?
Klaus Schulze, Rainer Bloss
Klaus Schulze
MIG Music
CD1: 76:35 / CD2: 79:16 / CD3: 77:34
25.03.2011