Ob JETHRO TULL nun genau ein halbes Jahrhundert alt sind, darüber dürfen sich Korinthenkacker streiten und die Gründungsmitglieder, allen voran Flöten-Storch Ian Anderson, am besten Bescheid wissen. In jedem Fall markiert diese üppig bestückte Dreifach-CD das 50-jährige Bestehen der stilistisch in all der Zeit nie genau festlegbaren britischen Prog-Band im weitesten Sinn. Zynische Kritik an Zeitgeist, Politik und Gesellschaft, jazzige bis poppige Experimente, satter Hardrock, folkloristisch Pastorales und synthetische Klänge - dies alles haben JETHRO TULL im Lauf ihrer Karriere verarbeitet und gewagt, genauso wie kopflastige Konzeptalben und zum Kopfwackeln animierter Epic Rock mit vordergründig fantastischen Themen, unter deren Oberfläche es indes brillant realistisch zuging.
Wen TULL dabei so alles beeinflussten, braucht man nicht aufzuzählen, um ihre anhaltende Relevanz zu belegen. Die zum Geburtstagsfest von Mastermind Anderson für diesen Release ausgesuchten 50 Stücke stammen von sämtlichen Studioalben (21 an der Zahl) und wurden remastert, was aber wohl in erster Linie der Vereinheitlichung des Sounds auf den drei Scheiben diente, denn die Originale hörten sich in ihren jeweiligen Erscheinungsjahren wenn nicht über alle Zweifel erhaben an, so doch auf jeden Fall nach dem damals vorherrschenden Zeitgeist. Strittig machte sich die Band ja sowieso wiederholt, und das eher stilistisch als rein klanglich.
So drängten sich TULL manchmal an den Rand der Unstimmigkeit, z.B. auch "erst" 2003 mit ihrem Weihnachtsalbum, von dem hier 'A Christmas Song' und 'Ring Out Solstice Bells' vertreten sind. Wer sich hingegen nicht die inflationär reichhaltig ausgestattete Neuauflage von "A Passion Play" zugelegt hat, erhält mit 'Critique Oblique' einen aussagekräftigen Einblick in Steven Wilsons Restaurierungsarbeit der alten Bänder. Darüber hinaus bietet die Compilation so Unterschiedliches wie 'Fylingdale Flyer' vom gern untergebutterten, weil fast schon avantgardistischen Langspieler "A", das seinem Titel gerecht werdende 'Heavy Horses' oder 'A Song For Jeffrey' aus der noch ziemlich konservativ-bluesigen Anfangszeit der Band.
Hits wie 'Broadsword' und (natürlich) als unvermeidliches Finale 'Locomotive Breath' fehlen in der mehr oder weniger chronologischen, aber unter dieser Prämisse klug ersonnenen Reihung ebenfalls nicht. " 50 for 50" bietet Facettenreichtum ohnegleichen, weshalb es müßig wäre, auf alle enthaltenen Tracks einzugehen. Wer das Ding oder die parallel erscheinende, kompaktere Werkschau "50th Anniversary Collection", die nur 15 Tracks dieses Tripels hier enthält, allerdings letzten Endes kaufen soll außer Die-Hard-Fans, ist nicht ganz klar.
Gibt es noch einen Markt für klassische Best-Ofs, die zum Neuentdecken einladen. Gibt es außer der Jugend, die eh Spotify hört, überhaupt jemanden, der mit JETHRO TULL bisher nicht in Berührung gekommen ist? Wie dem auch sei …
FAZIT: Qualität (Sound, Gestaltung, Inhalt) und Quantität stimmen bei "50 for 50" definitiv. Es handelt sich vermutlich um die ultimative Restrospektive in Sachen JETHRO TULL, auch wenn man den Verdacht nicht loswird, die alten Herren, die auf der Bühne alterslos erschienen, bräuchten nur einen Grund, um mit einem entsprechenden Programm auf Tournee gehen, weil sie nicht mit neuem Material zu Potte kommen. Eigentlich unerklärlich in Anbetracht von Ian Anderson hörenswertem Solo-Schaffen in jüngerer Zeit … <img src="http://vg01.met.vgwort.de/na/ddcdf53ef50d45d8aced10154b0e4ab7" width="1" height="1" alt="">
Erschienen auf www.musikreviews.de am 26.05.2018
Warner / Parlophone
240:07
25.05.2018