Wenn eines für "… And Justice For all" Charakteristisch ist, dann die zahlreichen Premieren, die man damit verbindet: Bekanntlich gab der ehemalige Flotsam-And-Jetsam-Bassist und -Hauptsongwriter Jason Newsted seinen Einstand auf dem Album, wurde gleich "Newkid" getauft und musste durch eine harte Schule gehen, deren "Unterricht" er bis zu seinem Ausstieg nicht richtig verkraftete. METALLICA knackten zudem erstmals die Top Ten der nationalen Charts in ihrer Heimat, wagten sich im Gegensatz zu bisher an einen Videoclip, der auch gleich in die Heavy Rotation von MTV gelangte ('One'), und gewannen sogar einen von zwei Grammys ("Best Metal Performance"), für die sie nominiert wurden.
In Bezug auf das Material an sich hat sich die anfängliche Euphorie (abgesehen von beinharten Fans vielleicht, denen das offensichtliche Erfolgsstreben der Musiker ebenso sauer aufstieß wie die Tatsache, dass das Quartett damit durchkam) über die Jahre hin relativiert, weshalb "… Justice" eine Zeitlang kurioserweise als Karrieretief angesehen wurde (bis "St. Anger" kam). Heute wiederum verklärt mancher die Scheibe erneut, wobei die Wahrheit über ihre Qualitäten und Bedeutung wie so oft irgendwo in der Mitte liegen dürfte.
Die Erstveröffentlichung der Scheibe über Elektra Records datiert auf den 7. September 1988; 2018 erscheint "… And Justice For All" klassisch auf Doppel-LP (wie üblich 180g-Vinyl) oder CD, aber auch als Dreifach-Silberling in der sogenannten „Expanded Edition“ mit Live-Tape; die Bonussektion umfasst bislang unveröffentlichte Demoaufnahmen, vorläufige Abmischungen von Tracks, soweit nicht offiziell erhältlichen Stoff aus dem Live-Archiv der Gruppe sowie ein reich bebildertes Booklet, an dessen Gestaltung Hausfotograf Ross Halfin maßgeblich beteiligt war. Tief in die Tasche greifen - aber es lohnt sich, wenn man beinharter Fan ist - muss man unterdessen für die limitierte Deluxe-Box.
Der Longplayer wurde von Band-Intimus Greg Fidelman remastert, wobei man löblicherweise tatsächlich einen merklichen Unterschied hört, auch wenn man nicht auf mehr Bass zu hoffen braucht. Die Veränderungen sind andererseits nicht so drastisch, dass man sich nach dem ursprünglichen Sound zurücksehnen müsste, wie es z.B. bei Dave Mustaines Megadeth-Remaster-Reihe der Fall war.
Was nimmt man nun mit aus der Erfahrung, dieses "… And Justice For All"-Update gehört zu haben? Das hängt davon ab, ob man längst mit der Materie vertraut ist, sie vielleicht sogar als wesentlichen Teil der eigenen Sozialisierung mit Musik versteht, oder als Angehöriger einer jüngeren Generation mehr oder weniger vorbehaltlos herangeht. In jedem Fall zollt der sehr technische Thrash, in den die Stücke teilweise ausufern, nach wie vor Respekt ab, selbst wenn in diesem Bereich andere Acts Maßstäbe setzten und METALLICA ihre Werke live nie so klinisch exakt (das ist übrigens auch ein Kritikpunkt an "Justice", die arg unterkühlte Atmosphäre) dargeboten haben, wie sie im Studio in Szene gesetzt wurden. Die abschließende Granate 'Dyer's Eve', die letzte Ideen des verunglückten Kult-Bassisten Cliff Burton enthält, ist ein Paradebeispiel dafür.
Darüber hinaus erklärt sich eigentlich alles von selbst: der Opener 'Blackened' fungierte nicht umsonst als Namenspender des Band-eigenen Labels, das weitgehend stampfende Titelstück entfaltet seine Wirkung anders als etwa die Gurke (jawohl!) 'Leper Messiah' vom Vorgänger "Master Of Puppets" tatsächlich erst nach mehreren Durchläufen, ohne dass man es sich schönhören müsste, und 'One' ist nicht nur aufgrund seiner kommerziellen Folgen, sondern auch wegen seines eindringlichen Inhalts sowie der entsprechenden musikalischen Umsetzung ein unanfechtbarer Klassiker.
Im Übrigen sei betont, dass man ausnahmslos alle Dreingaben nicht nur mit zugedrücktem Auge hören kann, weil der Sound womöglich auf Bootleg-Niveau angesiedelt sei; solche Befürchtungen erübrigen sich. Während die Demos und Outtakes Einblicke in den Schaffensprozess des Vierers gewähren bzw. verdeutlichen, was im Rahmen einer Produktion veredelt werden kann, reißen die Konzertmitschnitte auch heute noch mit - gerade deshalb, weil einem James Hetfields Leierstimme und Ulrichs Stolper-Drumming bei jüngeren Konzerten durchaus sauer aufstoßen kann, falls man nicht völlig vernarrt in METALLICA ist.
Was vergessen? Ach ja, in der Box sind die Album-Tracks auf zwei Vinyle verteilt worden und eine zusätzliche „One“-Picture-Disc enthalten. Außerdem mit im Paket: diverse Live-Mitschnitte, darunter jener des denkwürdigen Seattle-Gigs von 1989, neu abgemischt und bekannt aus dem "Live Shit"-Set, das Anfang der 1990er erschien. Insgesamt kommt das Komplettpaket auf satte elf CDs, vier DVDs und Aufnäher, einen Kunstdruck von Skateboard-Art-Ikone Pushead, der das ikonische "One"-Singlecover gestaltete, einen laminierten Tournee-Pass, Replikate der von Hand geschriebenen Texte für die Songs und eine Downloadkarte für sämtliche Audio-Inhalte, nicht zu vergessen ein 120 Seiten starkes Hardcover-Buch mit bislang unter Verschluss gehaltenen Fotos und ausführlichen Anekdoten wesentlicher Zeitzeugen. <img src="http://vg06.met.vgwort.de/na/d9a6b035a67f40e0b0eaafd18a44bea6" width="1" height="1" alt="">
FAZIT: METALLICAs viertes Album ist in "normal" oder nunmehr verschiedenen Deluxe-Konfigurationen nach wie vor sehr, sehr hörenswert und unabhängig davon ein Meilenstein der Rock- bzw. Metal-Geschichte. Mit all den Dreingaben, die Blackened Recordings für die Jubiläums-Neuauflage spendierte, dürfte in Bezug auf jene Schaffensphase der Band wirklich alles gesagt sein.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.10.2018
Blackened Recordings
+5h
02.11.2018