Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ aka „Pictures At an Exhibition“ luden von Beginn an zu weiterführenden Interpretationen an. Das ursprünglich für Solopiano entstandene Werk eröffnete Phantasie- und Klangräume, die sich trefflich weiterführend füllen ließen. Zahlreiche Orchesterbearbeitungen waren die Folge, die bekannteste dürfte die von Maurice Ravel sein, mittlerweile vermutlich häufiger gespielt als die Grundlage. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten gab es neben vielem anderen Varianten mit Orgel, Marimbas, Jazz- und Blasorchester, Klavier-Trio und Akkordeon. Irgendwer hat es garantiert auch mal auf einem Kamm geblasen.
1971 entstand ein Monolith des Progressive Rock und aufgeschlossenen Musikunterrichts der Siebziger: EMERSON, LAKE & PALMER legten eine eigene Interpretation von Teilen der Ausstellung vor, ergänzt um eigene Stücke, Gesang und eine malträtierte Hammondorgel. TOMITA zerpflückte die „Pictures At An Exhibition“ komplett elektronisch, die STERN-COMBO MEISSEN erwies sich nicht ungeschickt als Gruppe von Emerson, Lake & Palmer-Fans (verwundert wohl niemand), während MEKONG DELTA l 1996 eine ruppige, gitarrenlastige Ausstellungseröffnung hinschmetterten. Eher brachial als filigran, aber gar nicht übel. Mussorgskys Komposition überlebte auch das unbeschadet.
Marcus Schinkel, der sich im Jazz wie im Prog wohlfühlt und Klassik sehr zugeneigt ist (er bearbeitete unter anderem einige Beethoven-Kompositionen), zelebrierte, mit den Kollegen Fritz Roppel, Wim de Vries und Johannes Kuchta, „Pictures At An Exhibition“ bereits 2017 als Hommage an Keith Emerson auf der Bühne. Jetzt nahm das Quartett als VOYAGER IV das Werk im Studio auf. Und lieferte nicht nur eine gekonnte Verbeugung vor EMERSON, LAKE & PALMER, inklusive eines stimmig eingebauten Covers von „Lucky Man“, sondern eine eigenständige Werkbeschau. Ergänzt um das von Ian McDonald und Peter Sinfield geschriebene KING CRIMSON-Stück „Talk To The Wind“. Quasi als Zugabe. Ohne Flöte, aber mit viel Gefühl und Hang zu mitternächtlichem Jazz sowie Johannes Kuchta in der Rolle des Vorsängers, der bereits zuvor eine stimmstarke Vorstellung hinlegte, rau und trotzdem mit dem passenden Schmelz.
VOYAGER IV kopieren dabei die Vorläufer keineswegs stoisch und phantasielos. Auf elektrische und akustische Gitarren wird verzichtet, es gibt eine Rückbesinnung aufs Klavier, ergänzt um moderne Synthesizer-Sounds, knalliges Bassspiel („Baba Yaga“ ist eine feine funkige Fusion) und kleine Extravaganzen wie den Einsatz der Tupian Chalumeau, dem Vorläufer der Klarinette, auf der ersten Promenade. Das weist fast Züge von Klezmer-Musik auf und zeigt bereits früh, dass diese Ausstellung nicht allein im Prog-Museum stattfindet, sondern deftig Richtung Jazz-Rock ausschlägt und natürlich im Hinterkopf hat, dass die „Pictures At An Exhibition“ wahre Weltmusik sind und einladen die Sinne nach eigenem Gusto schweifen zu lassen. Eng an der Vorlage kleben kann Fliegenpapier. Genau das ist VOYAGER IVs „Pictures At An Exhibtion“ nicht.
FAZIT: VOYAGER IV inszenieren die „Pictures At An Exhibition“ als klangstarke, wildbewegte Reise durch Räume voller Ton gewordener Bilder. Natürlich gibt es Verweise auf EMERSON, LAKE & PALMER, doch bleibt das Album stets eigenständig, manövriert sich stilsicher durch unterschiedliche musikalische Richtungen ohne je richtungslos zu wirken. Eine wohlgeratene Erweiterung des großen „Pictures At An Exhibition“-Kanons. Ein Geschenk. Nicht nur für unter den Weihnachtsbaum.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.12.2019
Fritz Roppel
Johannes Kuchta
Marcus Schinkel
Tim de Vries
Johannes Kuchta (Tupian Chalumeau, Saxophon)
Melodic Revolution Records
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04.11.2019