Nachdem sich bereits das bisher letzte Album „Broken Machine“ der fünf Essex-Jungs mit aktueller Tagespolitik auseinandergesetzt hatte, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich dieser Trend auch auf dem neuesten Werk „Moral Panic“ fortsetzt. Waren es anno 2017 Themen wie Donald Trump, die Daily Mail oder ganz allgemein das soziale Ungleichgewicht, sowohl in ihrem Heimatland, als auch weltweit, sind die Texte auf „Moral Panic“ von Social Media, Brexit und wiederum Trump inspiriert und unterstreichen die immens eindringlichen Songs, die sich musikalisch deutlich weiterentwickelt haben und einen Quantensprung für NOTHING BUT THIEVES bedeuten.
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Klimawandel, die Allgegenwart und Allmacht sozialer Medien, politisches Chaos und der immer latent vorhandene Wunsch, dem ganzen Wahnsinn zu entfliehen - das Ganze irgendwo zwischen Wut und Resignation - dominiert die Tracks der Scheibe, die den Soundtrack zur globalen Krise mit spielerischer Leichtigkeit abgeben. „Unperson“ als Geschöpf eines Masterplans, der den völligen Kontrollverlust vorschreibt, Angst, Wut und Hoffnungslosigkeit kreiert und letztendlich die „Unperson“ hervorbringt, die sich wie eine Marionette dirigieren lässt, ist bedrückender Stoff, der den Sprung von der Fiktion zur Realität mittlerweile weitestgehend geschafft hat – ein grandioser Opener.
„Is Everybody Going Crazy“ haut in dieselbe Kerbe, die Welt, die kollektiv verrückt geworden zu sein scheint, im Hintergrund die bohrende Frage, ob man eigentlich noch Herr seiner Sinne ist, oder nicht bereits seit langer Zeit fremdbestimmt und schlicht „crazy“ geworden ist, während die Imagination des Himmels eine Wunschvorstellung bleibt, ein Gedankengebäude, das sich mit etwas mehr Zeit, die man nicht hat, wieder aufbauen und sich so das verlorene Paradies zurückgewinnen ließe.
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Stattdessen verfällt das Individuum in fiebrige Tagträume, die sich in „Moral Panic“ manifestieren. Am letzten Tag seines Lebens, fällt unserem Helden erstmals auf, wie blau das Meer eigentlich ist. Alle Entschuldigungen sind plötzlich hinfällig und wenn am Ende des Songs der schwärzeste Himmel über der Szenerie zusammenbricht, denkt man unwillkürlich an „Dancing With Tears In My Eyes“ in seiner konsequenten Weiterentwicklung, allerdings nur textlich, denn musikalisch bieten NOTHING BUT THIEVES ein Kontrastprogramm zum Weichspülpop und Mainstream, obgleich sich die Chose schmackhaft und tanzbar gibt.
Es bleibt auch in der Folgezeit düster. „A Real Love Song“ ist nämlich gerade alles andere als ein Lovesong. Mit seiner Textzeile: „this is a dark song – real dark“ ist er eine Art Signature-Track der Langrille, die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit dominiert die beschwingt dahin tänzelnde Rhythmik, aber wenn man sich bei NICK CAVE Anregungen holen muss, ist auch der schwächste Hoffnungsschimmer erloschen. In „Phobia“ klingt mit der Textzeile „I love the night but not the stars“ wiederum innere Zerrissenheit an, ein Hilfeschrei und der Wunsch nach Heilung, bevor alle Empfindungen verloren sind. Das anschließende „This Feels Like The End“ bildet mit seinem Vorgänger eine Einheit, die in der abschließenden Erkenntnis mündet, besser nicht sehen zu wollen, was dieses Leben aus uns allen gemacht hat.
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Mit „Free If We Want It“ keimt so etwas wie Hoffnung, irgendwie den Notausgang aus diesem Schlamassel zu finden, „Impossible“ ist danach eine wirkliche Liebeserklärung und der Love Song, der uns weiter oben verwehrt wurde.
„Threre Was Sun“, „Can You Afford To Be An Individual?“ und das abschließende „Before We Drift Away“ beenden ein enorm starkes Werk, das neben allen seelischen Abgründen, die es auslotet, gegen Ende auch so etwas wie einen Ausweg weist.
FAZIT: Mit „Moral Panic“ sind NOTHING BUT THIEVES anno 2020 auf dem Zenit ihres Schaffens angekommen. Ein politisches Album, das sich mit den Auswirkungen unserer Umwelt auf das Individuum beschäftigt, allerdings eher subtil und verhalten Position bezieht, den erhobenen Zeigefinger außen vor lässt, aber jedem Einzelnen den Spiegel seiner Entscheidungen vorhält, die zwangsläufig den weiteren Lebensweg bestimmen.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 24.10.2020
Philip Blake
Conor Mason
Dominic Craik, Joe Langridge-Brown
James Price
Sony
43:06
23.10.2020