<img src="https://vg04.met.vgwort.de/na/f79747441ed24844bbc2e3cd5813516d" width="1" height="1" alt=""> Schaut man sich die zahllosen Reaktionen auf das neue Album einer der letzten verbliebenen Bands mit echtem Superstar-Status an, fällt etwas auf. Menschen, die sich hauptberuflich oder semiprofessionell mit Musik befassen, ordnen es im Gesamtwerk mehrheitlich als grundsolide Leistung hinter die Klassiker und das „Black Album“ ein, auf Augenhöhe mit „Hardwired…“ oder knapp dahinter. Menschen wiederum, die rein als Fans hören und lediglich Kommentare verfassen, reden auffällig oft von einem „Grower“, also einer Platte, die mit jedem Hördurchgang wächst. Das ist interessant, denn sagen wir, wie es ist – wir beruflichen Vielhörer geben Alben aus rein zeitlichen Gründen niemals so viele Spins.
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Der Auftakt gelingt hervorragend. „72 Seasons“ und „Shadows Follow“ gehen ineinander über wie einst das Passspiel zwischen Messi und Iniesta. Ähnlich geschmeidig und zugleich druckvoll präsentiert sich der Gesang von James Hetfield. So melodisch und emotional überzeugend zugleich hat er lange nicht geklungen. Es mag damit zusammenhängen, dass die Texte auf dieser Platte seine persönlichen Wunden thematisieren, das bemerkenswerte Artwork mit dem beschädigten Kinderbettchen spricht diesbezüglich Bände. „Screaming Suicide“ rifft nicht nur recht mitreißend vor sich hin, sondern bietet ein erfrischendes Statement gegen das momentane Klima gut gemeinter, aber völlig fataler Ausblendung menschlicher Abgründe. Sie sind ja da, sie existieren, sie gehen tief… und man umstellt sie mit Pollern aus Triggerwarnungen und „Safe space“-Flatterband, in der Hoffnung, dadurch falle niemand mehr herein. Die populärste Metalband der Welt hingegen sagt: „Nein, dem Abrund hat man sich zu stellen, hinabzusehen, mit ihm zu reden und letztlich eine Brücke über ihn zu bauen.“ Ein sehr wichtiges Statement.
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„Lux Æterna“ bietet die schnellste Abfahrt der Platte und den kleinen oder großen Bruder von „Hardwired“, doch lasse sich von diesem als erste Single ausgekoppeltem Dreiminüter bitte niemand täuschen – als Appetizer ist es eine Mogelpackung, ein absoluter Ausreißer. Denn „72 Seasons“, das ist ein Brocken, ein tobender Troll mit Wurzeln und Erde auf dem Rücken, ein Album, das trotz des sehr klinischen Drumsounds und der zugänglichen Blockbuster-Produktion rein musikalisch eher eine Mischung aus dem „Black Album“, den dynamischeren Teilen von „Load“ und „Reload“, einem Hauch der Thrash-Großtaten und erstaunlich viel Doom, Sludge und etwas Groovemetal darstellt. In Relation zum vertrauten Metallica-Sound freilich, aber dennoch. Es erstaunt, wie wenig das die Menschen betonen, diese schweren Grooves und Stampfer, diese vielen Augenblicke, in denen man zumindest, bevor die Stimme einsetzt, bei einer Blindverkostung ganz klar ausrufen würde: „Crowbar!“ Oder: „Black Sabbath!“ Oder auch, und ich wette, die vier Männer hören diesen ewigen Geheimtipp gerne: „Clutch!“
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Der schwächste Moment der Platte, „Sleepwalk My Life Away“, lässt sich nur auf zweierlei Weise erklären. Erstens: Die lange Karriere, die vielen erschöpfenden Erfahrungen, der Alkohol und die stetige Lautstärke haben dazu geführt, dass auch diese Meister ihres Fachs in der Birne hier und da ein bisschen rammdösig werden und schlichtweg nicht merken, dass sie gerade „Enter Sandman“ ein zweites Mal geschrieben haben, nur in viel schwächer… und keiner traut sich, es ihnen zu sagen, so wie angeblich Putin niemand die wahre Lage an der Front vermittelt. Oder, zweitens: Dieser neue Song stammt aus einer parallelen Zeitlinie, in der „Enter Sandman“ gar nicht existiert hat, manifestierte sich auf dieser Platte und wird in einigen Jahren wieder davon verschwunden sein und die Erinnerung an ihn als ein weiterer Mandela-Effekt in die lange Reihe jener Matrixfehler eingehen.
Was der Band ebenfalls keiner sagt: Weniger ist mehr. Seit Langem schon begreifen Sie es nicht, stopfen Alben so voll wie alle Musiker der frühen Neunziger, als die CD noch recht frisch war und man ihre 77 Minuten maximaler Spielzeit einfach ausnutzte, weil es ging. Dabei erweist sich die Reise durch „72 Seasons“ gerade in ihrer zähen Dauer als ambivalent. Einerseits will man einzelne Songs herausgreifen, andererseits fühlt man sich, steht man das Album am Stück durch, seltsam gut gesättigt, gerade mit allen Längen. Ist das nur der Stolz, dass man Ausdauer bewiesen hat? Oder doch das Ergebnis einer stimmigen Dramaturgie aus einem Guss? Für Letzteres spräche die Einschätzung der Fans und Ofthörer, die Platte sei ein Grower.
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Den Ausschlag für meine ganz persönliche Sympathie, die unterm Strich für dieses Album bleibt, gibt das Finale. Ob „Inamorata“ seine elf Minuten braucht, sei auch mal dahingestellt, aber die Worte, die James Hetfield für den Kampf mit dem inneren Abwärtsstrudel findet, sind in ihrer Schlichtheit einfach berührend – und vor allem in ihrem kämpferischen Fazit: „Misery, she needs me / Oh, oh, but I need her more / Misery, she loves me / Oh, oh, but I love her more / Misery, she kills me / Oh, oh, but I end this war / Misery, she fills me / Oh no, but she's not what I'm livin' for.“
Jeder, der auf irgendeine Weise weiß, wie es ist, am inneren Elend kleben zu bleiben, weil dieser Käfig auch eine Art Zuhause darstellt, fühlt sich von der letzten Zeile gepackt und bewegt, die kurze Zeit auf Erden womöglich doch besser zu verbringen.
FAZIT: Von der womöglich besten Gesangsleistung ihrer Karriere getragen, führen uns Metallica auf diesem Album ohne hervorstechende Superhits durch eine zugleich zähe wie künstlerisch konsequente Reise mit Seelendrama-Konzept, die musikalisch teilweise begeistern und emotional hier und da verbindlich packen kann.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.04.2023
Rob Trujillo
James Hetfield
Kirk Hammett, James Hetfield
Lars Ulrich
EMI
77:06
14.04.2023