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Mathias Bäumel: Wiederentdeckt - Verborgene Schätze der Ostrock-Geschichte (Review)

Artist:

Mathias Bäumel

Mathias Bäumel: Wiederentdeckt - Verborgene Schätze der Ostrock-Geschichte
Album:

Wiederentdeckt - Verborgene Schätze der Ostrock-Geschichte

Medium: Buch
Stil:

Buch über den Ost-Rock der 60er- und 70er-Jahre (Ohne DDR-Bands!)

Label: Verlag der Kunstagentur Dresden
Spieldauer: 56 Seiten
Erschienen: 11.12.2015
Website: [Link]

Ein wichtiger HINWEIS vorab:
Unmittelbar nachdem diese Rezension zu MATHIAS BÄUMELs Buch erschienen war, nahm der Autor mit mir Kontakt auf und ergänzte einige der von mir getroffenen Aussagen oder Feststellungen. Bäumels Zeilen und Ausführungen waren dabei für jeden Interessierten an diesem Buch oder dem Ost-Rock überhaupt dermaßen spannend und aufschlussreich, dass ich sie am Ende dieser “Wiederentdeckt”-Besprechung vollständig an die Kritik angehängt habe!

„Wiederentdeckt“ - so lautet der Titel eines Buchs von MATHIAS BÄUMEL, das den Versuch unternimmt, die bisher vielen (größtenteils West-)Ohren verborgen gebliebenen Musik-Schätze der östlichen Rock-Hemisphäre zu heben und einem breiteren Publikum bekannt zu machen, denen progressiver Rock genauso wie Jazz-, Hard- und Blues-Rock sowie traditioneller Folk am Herzen liegen, die sich allerdings bei ihrer Hörkultur bisher nur auf die internationalen Größen wie die ROLLING STONES, KING CRIMSON, THE DOORS, THE MAHAVISHNU ORCHESTRA, LED ZEPPELIN, ELP, DEEP PURPLE oder YES, GENESIS, PINK FLOYD und GENTLE GIANT beschränken. Ein Buch für diejenigen also, deren Horizont grundsätzlich im Westen aufhört und dabei den Osten größtenteils ausschließt, obwohl der genauso wundervoll leuchtet und glänzt wie der westliche.

„Wiederentdeckt“ wird so zum Segen für die Einen, welche diese Entdeckungen noch nicht kennen, aber auch zum Fluch für die Anderen, denen die meisten Entdeckungen längst bekannt sind und die sich durchaus einen anderen Blickwinkel dazu angeeignet haben. MATHIAS BÄUMEL macht es einem nämlich nicht gerade leicht, denn häufig übertreibt er in seinen musikalischen Vergleichen, indem er viel zu oft auf das „Besser als“- statt das „Ganz so ähnlich wie“-Schema zurückgreift! Auch hält er sich nicht wirklich an seinen, im Vorwort durch ihn eindeutig formulierten Grundsatz: „Auswahlkriterium war vor allem, ob die Gruppen zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre Platten veröffentlicht haben, die man künstlerisch zur damaligen Spitze der Rockmusik Europas zählen muss.“ Unter diesen Bedingungen hätten einige wirklich wichtige Ostrock-LP‘s (bzw. bestimmte Bands) dieser Zeit nicht fehlen dürfen, weil sie wirklich in Polen, Bulgarien, Ungarn, Tschechien oder anderswo in östlich eingemauerten Scheuklappen-Systemen legendär wurden. Legendärer jedenfalls als einige der auf dem 56 Seiten starken Buch vorgestellten LPs und Bands. So fehlen eindeutig solche Alben wie „Ze Slowem Biegne Do Ciebie“ (1977) von SBB, „Konvergencie“ (1971) von COLLEGIUM MUSICUM, aber auch wahre Geheimtipps wie „Birthday“ von EXTRA BALL (purer Jazz-Rock in bester FERMATA-Manier), „The Most Beautiful Day“ von EXODUS (Symphonischer Rock mit Hang zu YES und GENESIS) oder „Svitanie“ (1977) von M(ODRY) EFFEKT (berauschender Klassik-Rock). MATHIAS BÄUMEL lässt sich offensichtlich bei seiner Wahl mehr von seinem eigenen Geschmack als vom „aufklärerischen Verborgenen-Schatz-Gedanken“ (Wie‘s der Untertitel seines Buchs offeriert!) leiten. Und die früher so oft gestellte Entweder-Oder-Frage: „Stones oder Beatles“ / „Purple oder Floyd“ beantwortete er sicher mit: „Stones und Purple!“ Auch wird während der Lektüre klar, dass er bombastischen Art-Rock und symphonischen Prog oder Space Rock nicht sonderlich mag, dafür mehr auf Hard- und Jazz-Rock oder Psychedelic, den er falsch als Psychodelic eindeutscht, steht.

Auch ist recht unklar, warum nicht wenigstens zu Vergleichen auch die wichtigsten DDR-Bands herangezogen wurden, egal ob nun die STERN-COMBO MEISSEN, ELECTRA oder LIFT, die eine ganz ähnlich ausgerichtete Musik auf hohem internationalen Niveau spielten und genauso unentdeckt blieben wie die in „Wiederentdeckt“ vorgestellten RGW-Bands [„Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ - ein sozialistischer Staatenverbund, dem die kapitalistische WEU-Variante (Westeuropäische Union) gegenüberstand!]. Die Hoffnung beim lesenden Kritiker, dass Bäumel den Versuch mit seinem Buch unternimmt, Ost-Musik-Perlen direkt neben West-Musik-Perlen aufzufädeln und alle als geschlossene Kette in einem ähnlichen Licht erstrahlen zu lassen, wird leider nicht erfüllt. Ein Anregung aber, sich mit anspruchsvoller 60er- und 70er-Jahre Rockmusik der unterschiedlichsten Spielarten aus dem Osten zu beschäftigen und gefangen nehmen zu lassen, ist es allemal!

So lernen wir das wohl wichtigste Album des Ost-Rocks „Enigmatic“ samt dem wichtigsten Künstler NIEMEN aus Polen genauso kennen wie die erfolgreichste Band hinter dem Eisernen Vorhang - OMEGA aus Ungarn - oder das absolute Glanzlicht hervorragenden Jazz-Rocks, nämlich FERMATA aus der ehemaligen CSSR. Auch gänzlich Unbekanntes finden wir, während wir allerdings im unangenehmen Falle nach einigen Musikern (SBB, COLLEGIUM MUSICUM, ILLÉS, OLYMPIC, BERGENDY, BLUE EFFECT) erfolglos suchen, was wiederum wohl mehr Bäumels Geschmack als seinem Sachverstand geschuldet ist.
Bei SKALDOWIE erfahren wir dann auch mehr über den besungenen Berg ihres Longtracks „Krywan, Krywan“, samt seiner geografischen, historischen und politischen Einordnung, als über die Musik selber.

Am stärksten aber ärgern einen beim Lesen des Buchs die ständigen Herabwürdigungen hervorragender Bands, die zum Vergleich der „wiederentdeckten“ Ost-Bands herhalten müssen, nur um die angebliche Stärke oder sogar Überlegenheit der vorgestellten Bands zum Ausdruck zu bringen! Das Schlachten alter Idole bringt garantiert keine neuen Idole hervor! Viel besser wäre es gewesen, hätte Bäumel die „unbekannten Musik-Ossis“ den „weltbekannten Musik-Wessis“ gegenübergestellt und sie auf eine gemeinsame Stufe gehievt. Um also beim Bild mit der Perlenkette zu bleiben - besser der Autor hätte die Perlen nebeneinander angeordnet, also FERMATA neben das MAHAVISHNU ORCHESTRA, NIEMEN neben KING CRIMSON, OMEGA neben PINK FLOYD, THE MATADORS neben THE DOORS, SYRIUS neben COLOSSEUM usw., usf. Das tut er aber nur selten, stattdessen überhöht er die Einen, indem er die Anderen erniedrigt. Solche Art Umgang mit Musik stößt dem Leser oft bitter auf, besonders wenn er selber die Alben oder Bands mag, die von Bäumel als „Anti-Vergleiche“ runtergemacht werden, egal ob das nun von OMEGA „Idörablo“ („künstlerisch eher retrospektiv und schwerfällig wirkenden, schwülstigen Space-Rock“), den BEATLES „We Can Work It Out“ („ein Beatles-Liedchen“), VANILLA FUDGE („in Klanggestalt und stimmlicher Wucht noch stärker als die ‚Vanille-Bonbons‘“), BLACK SABBATH (Im Vergleich zur Black-Sabbath-Scheibe wirkt dabei Omegas ‚Éjszakai Országút‘ ebenso kraftvoll, aber nicht so tumb, dafür deutlich abwechslungsreicher und ambitionierter“), oder MARIAN VARGA, dem Kopf von COLLEGIUM MUSICUM, (Grigláks Horizont war viel weiter als der von Varga und nicht nur auf bombastrockige Umsetzung von Barock- und Romantik-Mustern orientiert). Am schlimmsten aber wirkt eine Formulierung, die er im letzten Kapitel zu dem wirklich ausgezeichneten Album „Huascaran“ der Slowaken FERMÁTA trifft: „Spätestens von dieser Platte an hatte FERMÁTA nicht nur ihre eigene Ursprungsband COLLEGIUM MUSICUM, sondern überhaupt sämtliche Art- und Progrock-Bands, inklusive EMERSON LAKE & PALMER, künstlerisch weit hinter sich gelassen.“ Und es geht sogar noch ein bisschen schlimmer: „Nachdem Frantisek Griglák von 1971 bis 1972 den anfangs eher hausbacken-possierlichen Klassikrock-Sound von COLLEGIUM MUSICUM mit Spannung und Dynamik versehen hatte...“ ist eine unhaltbare Behauptungen, gerade weil nach Grigláks CM-Abgang 1976 das Album „Marián Varga & Collegium Musicum“ erschien, welches das symphonische Ostrock-Highlight schlechthin ist und unbedingt in diese „Wiederentdeckungen“ gehört hätte, statt mit solcher haltlosen Verallgemeinerung zur Abstrafung der wohl besten slowakischen Art-Rock-Band aufzuwarten.

Vieles in „Wiederentdeckt“ klingt tatsächlich so anmaßend, als hätte es nicht ähnlich Gutes oder sogar Besseres von KING CRIMSON, YES, GENESIS, MILES DAVIS (Man denke nur an „Bitches Brew“!) oder PINK FLOYD gegeben. Und während ich diese Buch-Besprechung verfasse, läuft gerade das von Bäumel und mir gleichermaßen geliebte „Huascaran“ von FERMATA. Ein Jazz-Rock-Album, das ganz ähnlich endet wie PINK FLOYDs „Dark Side Of The Moon“ beginnt. Mit einem Herzschlag.

FAZIT: Jedem, der auch anno 2015 noch den Versuch unternimmt, allen träge gewordenen, westlichen Gewohnheitshörern den hervorragenden östlichen Vergangenheits-Rock wieder in den Sinn zu rufen oder darauf zu verweisen, dass es doch tatsächlich hinter dem Eisernen Vorhang richtig gute, qualitativ genauso hochwertige Musik wie im Westen gab, dem gebührt Hochachtung.
Mathias Bäumel unternimmt diesen streitbaren Versuch und stößt dabei leider an die Grenzen seines eigenen Geschmacks, die ihn dazu verführen, einige wirklich wichtige „Schätze der Ostrock-Geschichte“ unbeachtet zu lassen. Trotzdem ist das Buch eine ganz dicke Empfehlung wert und hilft vielleicht ein wenig dabei, Anderen zu zeigen, dass wir im Osten nicht in einem „musikluftleeren“ Raum lebten, sondern gerade solche Musik uns dabei half, die unfreiwillige achtundzwanzigjährige Gefangenschaft hinter der Mauer zu überstehen! Wer suchet, der findet! „Wiederentdeckt - Verborgene Schätze der Ostrock-Geschichte“ sollte man bei seiner Suche unbedingt entdecken!

Ergänzende Worte von MATHIAS BÄUMEL zu dieser Kritik:

Ich wollte eine Broschüre machen, die lediglich als Anreger dienen soll. Als Anreger für Leute, die den sogenannten Ostrock nicht kennen (etwa Jüngere oder auch Wessis), aber auch für Leute, die das von früher her kennen könnten, aber vielleicht aus den Augen verloren haben. Diese Broschüre sollte vom Preis und vom Umfang her etwas sein, das man einfach mal schnell an der Kasse mitnehmen kann. Ich wollte bewusst kein Kompendium schreiben, dessen Umfang und Preis Kaufbarrieren darstellen. Daraus ergibt sich die Beschränkung auf eine maximal 56-seitige Veröffentlichung, was auch bedeutet, dass kaum mehr als zehn Langspielplatten von eben zehn Bands aufgenommen werden konnten. Logisch, dass viele Platten und Bands deswegen gerade von den »Kennern« vermisst werden müssen.
Also musste ich streng auswählen, und dies tat ich nach meinen persönlichen Maßstäben. Im Allgemeinen bewerte ich jene Platten und Bands positiv, die sich von den formalen Üblichkeiten bestimmter Rockrichtungen frei gemacht haben, also stilistisch abwechslungsreich sind, und die nach meinen Maßstäben »besser« sind als vergleichbare Platten und Bands jener Zeit aus dem »Westen«. Ich selbst komme vom Free Jazz her, habe in der Mitte der siebziger Jahre für meine Hörgewohnheiten meine Rockorientiertheit aufgegeben zugunsten freierer, experimentellerer Formen, auch für Punk und experimentelle Elektronik; seit Jahren schreibe ich Artikel über Free Jazz und zeitgenössische Musik, nur noch wenig über herkömmliche Rockmusik. Das spiegelt sich natürlich in der Auswahl der LPs (und der zugehörigen Bands) wider. Deswegen fallen bei mir ganz bewusst Platten raus, die Du gern dabei gesehen hättest. Einige von Dir hochgeschätzte Platten stehen für mich eher als Zeichen für beginnenden künstlerischen Niedergang oder zumindest nicht als Beispiel für die Spitze der jeweiligen Entwicklung (z. B. »Idörabló«).
Die Platte »Konvergencie« nimmt da eine Sonderstellung ein. Ich wertschätze dieses Doppelalbum auch sehr, aber vor allem wegen des Gitarristen Griglák, auch wegen einer gewissen Leichtigkeit und Transparenz der Musik generell. Alle weiteren Collegium-Musicum-Platten sind für mich eher Gefälligkeitsmusik. Da Griglák bei Fermáta vorkommt und ich für Collegium Musicum keine andere Band streichen (»opfern«) wollte, fiel das Doppelalbum dann schweren Herzens raus.

Um es noch einmal zu wiederholen: Du hast recht mit Deiner Feststellung, dass ich die jeweiligen Platten über andere Vergleichsplatten westlicher Bands stelle. Ja! Gerade das war ja auch ein wichtiges Auswahlkriterium! Ich finde diese Platten tatsächlich besser als angeführte Referenzplatten der jeweils westlichen Bands. Das ist, wie gesagt, subjektiv, dennoch habe ich versucht, einiges – im Rahmen des beschränkten Platzes – zu begründen.

Natürlich wollte ich auch denen, denen diese Platten schon etwas vertraut sind, ein paar vielleicht interessante Zusatzinformationen geben. Deswegen die Erläuterungen zum Berg Krywan, deswegen die Hintergründe zu General Bem … Das finde ich interessanter und vielleicht sogar wichtiger als eine Ausweitung der verbalen Beschreibung des Hörbaren.

Mathias Bäumel

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 3661x gelesen, veröffentlicht am )

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Tracklist:
  • INHALT des Buchs:
  • Vorwort
  • THE MATADORS - The Matadors (1968)
  • NIEMEN - Enigmatic (1969)
  • OMEGA - Éjszakai Országút (1970)
  • LOCOMOTIV GT - Locomotiv GT (1971)
  • PROGRESS ORGANIZATION - Barnodaj (1972)
  • SYRIUS - Az Ödög Álarcosbálja (1972)
  • SKALDOWIE - Krywán, Krywán (1972)
  • DEZO URSINY - Dezo Ursiny/Provisorium (1973)
  • BIJELO DUGME - Kad Bi‘ Bio Bijelo Dugme (1974)
  • FERMÁTA - Huascaran (1977)

Besetzung:

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