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Steven Wilson - Live Music Hall, Köln - 27.10.2011

Im Innenhof der Kölner Live Music Hall beginnt der Herbstabend, sich dunkel zu färben. Bei Eintritt in die Halle verändert sich die Zeitrechnung: Eine Leinwand trennt die Bühne vom Publikum. Darauf werden im quälend langsamen Abstand von mehreren Minuten Illustrationen aus den „Grace For Drowning"-Artworks projiziert. Einige von ihnen bewegen sich – langsam, sehr langsam. Mit 120 bpm erfüllt ein konstantes Wummern den Saal. Es wird von beunruhigenden Drone-Effekten aus dem Hause BASS COMMUNION grundiert. Das ist alles. Fast eineinhalb Stunden lang audiovisueller Minimalismus, der die Spannung steigert, fast überreizt. Da wird der Verzicht auf die Vorgruppen klar: Steven Wilson möchte seine erste Solotour als Gesamtkunstwerk verstanden wissen, das möglichst wenig von äußeren Faktoren aufgebrochen werden soll.

Endlich wird die Leinwand von innen beschienen. Sie wird transparent, doch sie fällt nicht. Hinter ihr sitzt Marco Minnemann am Schlagzeug, der Deutsche, der mal mit den FREAKY FUCKIN WEIRODZ und den H-BLOCKX anfing, zuletzt bei DREAM THEATER zum Vorspielen eingeladen wurde und hier und jetzt alleine auf der Bühne sitzt, um die ersten Takte von „No Twilight Within The Courts Of The Sun" einzuläuten. Dann betreten sie nacheinander die Bühne: Nick Beggs, Aziz Ibrahim, Theo Travis, Adam Holzman. Das Puzzlestück setzt sich zusammen, Wilsons künstlerische Vision erlebt ihre Umsetzung in einer Aufschichtung von Instrumenten und Instrumentalisten, doch ausgerechnet Wilson selbst, das zentrale Puzzlestück, stürmt auf einmal die Bühne wie ein Entertainer und Rockstar, hebt - nur halb selbstironisch - beide Arme und feiert sich selbst. Er ist es letztendlich ausgerechnet, der die unnahbare Szene aufbricht und sie wieder einer Live-Unterhaltungsshow annähert.

Durch die Leinwand hindurch beginnt die Band also, eine Mischung aus „Insurgentes" und dem aktuellen „Grace For Drowning" zu spielen. Gleich beim Opener wird deutlich, wie sorgfältig die Stücke vom 2009er-Solodebüt neu arrangiert wurden, um in den aktuellen Sound zu passen; als sich der ohnehin schon jazzlastigen Struktur von „No Twilight Within The Courts Of The Sun" beispielsweise eine Flöte anschließt, könnte man das ganze Ding problemlos irgendwo auf einen freien Platz der aktuellen Doppel-CD schmeißen – genug Platz wäre ja noch da.

„Index" eröffnet den Grace-For-Drowning-Reigen, den Wilson gimmickartig mit verzerrter Stimme wie folgt ankündigt: „I am…the… Collector". Minnemann lässt die Snare marschieren und industrielle Tack-Tack-Tack-Geräusche gehen im Einklang mit verzerrten Bildern sezierter Käfer, die auf der immer noch hochgezogenen Leinwand wie auf einer falsch aufgezogenen Projektorspule wackeln. Der klimatische Aufbau des Stücks eignet sich natürlich hervorragend, um das Publikum für den weiteren Abend anzufachen.

Gerade, als man denkt, langsam wird’s zu klinisch mit dem Vorhang zwischen Bühne und Publikum, da fällt er in einem Satz herunter und legt den Blick endgültig frei auf die nun viel nahbareren Musiker: „Like Dust I Have Cleared From My Eyes", könnte man sagen. In Köln hat Wilson ohnehin relativ leichtes Spiel, schließlich ist die Stadt für PORCUPINE-TREE-Anhänger viel bereistes Gebiet – kein Wunder, dass Wilson diesen Punkt in einer von zwei signifikanten Ansagen anspricht. Die andere Ansage basiert auf einem Malheur, das dem berühmten Saitenriss auf der „Arriving Somewhere"-DVD von PORCUPINE TREE recht nahe kommt. Die Angelegenheit wirkt recht geskriptet, provoziert aber dennoch ausreichend Belustigung auf beiden Seiten. Und gleiches gilt auch für die Performance; Wilson atmet und genießt da sichtbar seine Arbeit, deutet mit dem Finger zugleich aber immer wieder auf den Musiker, der gerade jeweils im Zentrum einer Passage steht. Zum einen lässt das die Darbietung wie eine perfekt geölte Maschinerie wirken, die voll nach Plan läuft, zum anderen lenkt es die Aufmerksamkeit der Zuschauer darauf, wie wichtig das Zusammenspiel der einzelnen Elemente ist. Heimlicher Star des Abends bleibt dabei Minnemann, der immer wieder mühelos die Arme querlegt, um mit komplexen Rhythmen den Ton anzugeben – und dabei ganz nebenbei auch noch enorm lebendig wirkt und mehrfach mit Publikum und Frontmann kommuniziert. Wilson selbst ist ähnlich gut aufgelegt, irritiert mit seiner Aufgekratztheit aber ein ums andere Mal, insbesondere, als er am Ende sogar mit „Insurgentes"-Maske vor dem Publikum steht.

Das Set deckt die ganze Bandbreite ab, von der Melancholie der Balladen („Deform To Form A Star", „Postcard") über die Aggression der Metalausbrüche („No Part Of Me") bis zum ultraherausfordernden Longtrack („Raider II") wird jede Vorliebe berücksichtigt. „Get All You Deserve" ist als Zugabe vortrefflich gewählt, ein letztes gewaltiges Aufbäumen durch die musikalische Entsprechung eines reinigenden Gewitters. Schließlich erlischt die Bühne, weitere Lasse-Hoile-Impressionen werden an die Wand projiziert und die BASS-COMMUNION-Drones setzen wieder ein. Die Band ist fort und das Konzert, das so extrem lebendig gewirkt hat, lässt geisterhafte Phantombilder nachwirken.

SETLIST:

NO TWILIGHT WITHIN THE COURTS OF THE SUN

INDEX

DEFORM TO FORM A STAR

SECTARIAN

POSTCARD

REMAINDER THE BLACK DOG

HARMONY KORINE

ABANDONER

LIKE DUST I HAVE CLEARED FROM MY EYE

NO PART OF ME

VENENO PARA LAS HADAS

RAIDER II

Encore:

GET ALL YOU DESERVE

Sascha Ganser (Info)