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Interview mit Sylvan (07.11.2009)

Sylvan

Sylvan haben sich mit ihrem neuen Album „Force of gravity“ auf eine kleine Europa-Tour gemacht und machten auch im „Rind“ in Rüsselsheim Halt. Dabei haben sich drei Fünftel der Band Zeit für unsere Fragen genommen. Drummer Matthias Harder, Gitarrist Jan Petersen und Keyboarder Volker Söhl blicken auf kleine versteckte Botschaften aus der Finanzwelt, mit sorgenvollen Blick auf ihre Konten, auf die Ambivalenz der Kritiken und nicht zuletzt auf das Phänomen „King Porn“.

Musikreviews.de: Euer neues Album „Force of gravity“ besitzt etwas, was nicht viele andere Alben haben, nämlich eine Höranleitung. „Turn off the light, open your heart and play it loud“. Ich habe versucht das beim ersten Hördurchgang zu befolgen und bin kläglich gescheitert, weil ich diese emotionale Achterbahnfahrt ohne physische Bewegung nicht aushalten konnte. Was macht „Force of gravity“ für Euch speziell?

Volker Söhl: Natürlich schon allein der Gedanke an die Gravität, nämlich das Kraftvolle, Wechselhafte und Dynamische. Im Prinzip ist es eine Achterbahnfahrt, bei der man mit hinuntergerissen wird und sich stellenweise ausruhen kann.

Sylvan - Force Of GravityMusikreviews.de: Damit hast Du auch schon gleich auf das Cover angespielt. Ein einziges Auf und Ab der Gefühle. Ist damit auch die Sehnsucht verknüpft die Schwerkraft zu überwinden und in neue Sphären vorzudringen?

Matthias Harder: Wir müssen die Idee der Achterbahn aus einer etwas anderen Perspektive betrachten. Dass die Achterbahn auf dem Cover ist, hat andere Gründe. Wir dachten nicht: jetzt haben wir ein Cover mit einer Achterbahn und schreiben dazu passende Songs. Es ist ja kein Konzeptalbum. Wir haben begonnen zu schreiben und waren uns darüber im Klaren, dass die Songs sehr unterschiedlich werden. Es sollte keine Wohlfühl-„Presets“ oder eine Wohlfühl-„Posthumous silence“ werden, in der eine Grundstimmung vermittelt wird. Die Leute sollten zehn oder elf unterschiedliche Songs bekommen.
Die Symbolik der Achterbahn ist danach entstanden, als wir uns überlegten, wie man das visualisieren kann. Zu der Zeit sind wir auf Bilder von einem stillgelegten Vergnügungspark im Berliner Spreepark gestoßen und waren hin und weg von dieser Melancholie. Diese ganzen stillgelegten Fahrgeschäfte, die ursprünglich mal Geschwindigkeit und Freude erzeugen und die Erdanziehung überwinden sollten. Alles lag brach wie in einem Dornröschenschlaf und daraus ist die Idee des Covers geboren.

Jan Petersen: Was aber auch musikalisch beeinflusst war, denn die Energie und die Dynamik von „Force of gravity“ haben sich als Opener angeboten.

Matthias Harder: Absolut. Da haben also viele kleine Rädchen ineinander gegriffen.

Musikreviews.de: Das ist auch eine Sache, die man so noch nicht von euch kannte. Denn es geht ja von Beginn an richtig zur Sache und nicht, wie man es von „Posthumous silence“ oder „Artificial paradise“ kennt, mit einem langen Intro los.


Volker Söhl: Das wurde auch von allen begeistert aufgenommen. Wir waren uns alle schnell einig den Hörer gleich mit „Force of gravity“ „anzuspringen“.

Matthias Harder: Wobei der Song nicht extra dafür komponiert wurde. Als wir überlegten, welche Reihenfolge sich anbietet, war schnell die Idee „Force of gravity“ als Opener zu nehmen. Das ist genau das Statement, das den Hörer erreichen soll, wenn er das Album das erste Mal hört. Es ist eine Art Vorschau auf die kommenden 75 Minuten.

Musikreviews.de: Gerade in eurem Forum wurde das Album sehr positiv aufgenommen und viele halten es für Euer bestes Werk. Es gab aber auch kritischere Stimmen, denen das Album nicht zusagte und die es teilweise für über ambitioniert hielten. Gab es denn während Ihr das Album produziert habt Momente, wo Ihr am neuen Weg oder an den Ideen für das neue Album gezweifelt habt?

Matthias Harder: In meinem Fall war es so, dass ich während des Schreibens der Meinung war, dass wir noch viel zu wenig experimentieren. Deshalb war ich, als die ersten Reviews kamen, sehr überrascht, dass das als so extrem empfunden wurde, weil mir 1000 Sachen eingefallen wären um es noch extremer zu machen.
Die Reviews kann man durchaus auch als Kompliment verstehen. Wir sind damit quasi in die Riege der Genesis und Pink Floyd vorgestoßen, die mit jedem weiteren Album polarisieren. Wenn man nun, wie wir, das siebte Album veröffentlicht, sind natürlich auch die Kritiker Fan von einem bestimmten Album, der eine eben von „Artificial paradise“, der andere von „Posthumous silence“. Die Schlüsselreize, die so an unsere Vorgänger erinnern, kann man einfach nicht bedienen.
Was mich allerdings gewundert hat war, wie sehr diese Meinungen auseinander gingen. Es gibt Leute, die das Album für ein schwächeres halten, aber „Vapour trail“ großartig finden. Und die anderen sagen dann, dass wir bei „Vapour trail“ wie auf „Artificial paradise“ klingen, aber „God of rubbish“ wahnsinnig innovativ ist. Die Kritiker sind sich also überhaupt nicht einig.

Jan Petersen
: Dazu noch ein paar Worte von mir. Ich bin in einer anderen Situation gewesen, weil es das erste Studioalbum mit der Band war. Insofern hatte ich nicht den Gedanken, dass es in eine falsche Richtung gehen könnte. Ich war immer zuversichtlich, dass das ein klasse Album wird und bin hochzufrieden mit dem Ergebnis. Und dass das so polarisiert finde ich auch super, weil das ein gutes Zeichen für die Entwicklung der Band ist. Deshalb können wir da, glaube ich, sehr stolz auf den Reifeprozess sein.

Volker Söhl: Das Polarisierende ist das, was mich am meisten freut. Natürlich freut man sich über ein Album wie „Posthumous silence“, wo 95% der Kritiken einfach toll sind. Aber es ist auch klar, dass das nicht bei jedem Album so ist und es wäre auch völlig falsch als Band auf so etwas abzuzielen. Von daher finde ich es prima, dass das Album so vielseitig und heterogen ist, dass sich jeder einen anderen Song herausgreifen kann, der ihm persönlich gefällt.

Jan Petersen: Eigentlich ist es unendlich kurios, dass bei dieser Masse an guten Kritiken zu „Posthumous silence“, die erste Kritik, die die Band gelesen hat, vernichtend war.

SylvanMatthias Harder (lacht): Stimmt genau. Ich war auf dem Weg nach Barcelona, nachdem wir zwei Alben („Posthumous silence“ und „Presets“) parallel aufgenommen haben. Ich war unendlich gespannt, schlug die erste Rockzeitschrift auf, las die erste Kritik zu „Posthumous silence“, die mit den Worten begann: „Was ist das denn?“. Und sie endete mit: „Das Beste an der CD ist die Stop-Taste auf dem CD-Spieler.“ Ich dachte nur „Meine Güte, die Leute hassen es, sie begreifen es nicht.“ Aber es blieb die einzige negative Kritik.
Ich habe auch Eure Review zu „Force of gravity“ nochmal gelesen und musste sehr über den Fan-Kommentarzyklus schmunzeln. Die Fans haben einige Sachen geschrieben, die auch mir in der Seele brannten. Es sind ein oder zwei Sachen drin, wo man auch als Musiker schmunzeln muss und sich fragt, was das für eine Kritik ist. Euer Rezensent schreibt ja, dass das Album keine Dynamik habe. Jetzt weiß ich nicht, was er unter Dynamik versteht. Denn genau der Laut-leise, kräftig-zurückhaltend, schnell-langsam-Mix ist ja diese Dynamik.
Und er endet mit dem Satz, dass man uns nicht unterschätzen dürfe, wenn wir uns wieder richtig Zeit für ein Album nehmen würden. Das ist schon anmaßend und ärgert uns ein Stück weit. An diesem Album haben wir genauso intensiv gearbeitet, wie an den Vorgängern.

Volker Söhl: Es geht vor allem an der Realität vorbei, da wir uns immer sehr viel Zeit mit unseren Alben lassen. Sowohl bei der Komposition, Produktion und beim Arrangieren. Und ausgerechnet diesmal haben wir uns bei der Produktion im Studio so viel Zeit genommen, wie wir es noch nie zuvor gemacht haben. Wir haben zum Teil sorgenvoll auf unsere Konten geschaut, uns aber gesagt, dass wir noch weiter machen und nochmal das Streichquartett dazu nehmen.

Matthias Harder: Man wundert sich ein bisschen über die Wahrnehmung und was manche Leute hören. Es ist völlig in Ordnung, wenn Leute sagen, dass sie es langweilig und uninspiriert finden, aber ich finde nicht, dass man dem Album vorwerfen kann, dass es so klingt, als ob wir uns keine Mühe gegeben hätten.

Musikreviews.de: Daran sieht man mal wieder, dass das Interpretieren von Musik sehr subjektiv ist.

Jan Petersen (lacht): Schreiben über Musik ist wie Tanzen über ein Buch, hab ich mal gelesen.

Musikreviews.de:  Ein schöner und zugleich zutreffender Vergleich.

Matthias Harder: Das sieht man ja schon daran, dass die eclipsed zum Beispiel das neue Muse- Album abgestraft hat, während das neue Porcupine Tree-Album wieder über den grünen Klee gelobt wurde. Es ist sehr subjektiv und auch stimmungsabhängig, weil man eben nicht immer in der Stimmung für bestimmte Musik ist.

Jan Petersen: Damit hast Du zu Beginn auch eingeleitet. Du hast versucht Dir das Album laut anzuhören und hast es nicht bis zum Ende durchgehalten. Meiner Meinung nach geht das vielen Leuten mit unserer Musik so, weil sie hoch emotional ist und voraussetzt, dass man seelisch bereit sein muss sich darauf einzulassen. Rammstein zu hören ist leichter. Das bleibt etwas oberflächlicher und man kann sich nebenbei noch intellektuell mit den Texten auseinander setzen.

Matthias Harder: Noch ein weiterer wichtiger Punkt, der ziemlich deutlich wird, wenn man sich die englischen und amerikanische Reviews zu unseren Alben ansieht: eigentlich alle sind begeistert von unseren Texten und gehen darauf in den Kritiken auch explizit ein. Wir sind zwar keine „native speaker“, aber Marco schreibt ganz hervorragende Texte und ich finde, dass auf „Force of gravity“ mit unsere besten Texte sind. Das rafft in Deutschland keiner und es geht auch niemand darauf ein. Da wird „God of rubbish“ unterstellt, dass wir einfach mal einen Punk-Song machen wollten. Die Leute verstehen aber gar nicht, warum das so ist. Wenn man sich die Texte ansieht, merkt man, dass das pure Ironie ist. „Follow me“ strotzt zum Beispiel vor witzigen Zitaten aus der Banken- und Wirtschaftsindustrie, wo sich Marco sehr gut auskennt. Oder das abgedrehte Solo in „Follow me“, das ist die Dax-Kurve der letzten zehn Jahre.

Jan Petersen: Und da fühlt man sich als Musiker auch etwas missverstanden, wenn nur das musikalische bewertet wird. Denn der Text ist ja das, woraus die Musik eigentlich entstanden ist. Ohne den Text kann man den Song nicht wirklich verstehen. Oft gehen leider die Kleinigkeiten, die uns am meisten reizen, unter.

Musikreviews.de: Eine wunderbare Überleitung zu „Follow me“ und „God of rubbish“. Wenn man das Album eben unter dem Aspekt der Lyrics betrachtet, ist diese Eloquenz klar erkennbar.
“Follow me” soll vermutlich eine Art Abrechnung mit der Gier im Kasinokapitalismus sein. „King SPV“ und „Equity shares“ sind ja in der Finanzkrise zum Synonym für alles Unmoralische geworden. Ist das die Nachricht an den Hörer?

Matthias Harder: Ja und zum anderen eben auch ein bisschen die Sicht des Bankers und die Gier, der sie unterliegen. Es ist nicht nur die anklagende Sicht von außen, sondern auch der Blick auf das Gefangensein des Bankers in diesem Kreislauf der Gier, der hinter dem Geld herhechelt.

Musikreviews.de: Daneben meinten viele bei „God of rubbish“: Sylvan goes punk. Nun gut, punkig ist es wirklich und auch der Text geht ein wenig in Richtung Punk. Allerdings ist es natürlich eine bitterböse Hommage auf den Punk, seine Texte und das Lebensgefühl. Gleich in den ersten Zeilen singt Ihr ja „What are those harmonies? Progressive useless complexity“…

Jan Petersen: Und wir stellen dem Ganzen ein Musikstück gegenüber, dass den Punk und seine Simplizität widerspiegelt. Vor allem aber Dilettantismus, der zur Kunstform erhoben ist. Er ist ja daraus entstanden, dass die Leute ihre Instrumente nicht spielen konnten, so etwa nach dem Motto „Wir können zwar nichts, machen es aber trotzdem“. So haben wir die Nummer natürlich nicht gespielt, sie ist instrumentell immer noch akkurat. Das ist immer ein bisschen beleidigend, denn das Lied ist gar nicht wirklich Punk, denn es spielt ja nur mit dem Klischee.

SylvanMusikreviews.de: Wenn man bei Eurem kritischen Blick auf das Leben und die Gesellschaft bleibt, kommt man um „King Porn“ nicht herum. Klingt, neben der Gesellschaftkritik, auch ein wenig nach Kritik an der medialen Reizüberflutung. Spielt ihr damit auf das Phänomen „Entertaining yourself to death“ an, das zur Abstumpfung der Menschen führt?

Volker Söhl: Das auch, allerdings ist es kein Song, der sich ausschließlich mit Pornographie und ihren Folgen beschäftigt. Natürlich geht es auch um die Abstumpfung der Leute, die durch die Medien befördert wird und um die Tendenz in der Gesellschaft, dass sich die Leute mit immer primitiveren und perverseren Dingen abgeben und es nicht mal merken. Ich habe bei „King Porn“ immer an diese grauenhaften Nachmittags-Talkshows gedacht. Da denkt man sich zwangsläufig, dass das weder die Moderatoren noch die Vorgeführten ernst meinen können. Eine reine Befriedigung der Schaulust. Wir geben diesem Phänomen mit „King Porn“ einen Namen.

Matthias Harder: Eine kleine Anekdote am Rande dazu: „King Porn“ war einer der ersten Songs, die wir geschrieben haben und noch bevor wir die Idee mit dem Vergnügungspark auf dem Cover hatten, überlegten wir das Album „King Porn“ zu nennen. Dazu hätten wir dann unter anderem auch unsere Webseite entsprechend umgestalten müssen.

Musikreviews.de: Um noch auf eine weitere Facette einzugehen: Der Song „Midnight Sun“ ist ja eine Art Äquivalent zum Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich. Wie hängen Text und Bild zusammen?

Matthias Harder: Ursprünglich ist das ein Song, den ich für mein Nebenprojekt „Rain for a day“ angedacht hatte. Dann haben wir uns mit „Sylvan“ mal an den Song gesetzt, daraus wurde das Duett mit Miriam Schell und irgendwann kam Marco mit den Bildern und dem dazugehörigen Text. Ich hatte ihm vorher gesagt, dass die Musik für mich nach Eis und Kälte klingt. Und das ist Marcos großes Talent: er kann mit Worten komponieren. Bei „God of rubbish“ sind unsere Ideen auch aus seinen Texten entstanden. Er hat ein unglaubliches Händchen dafür die Worte zu finden, die zu unserer Musik passen.

Vielen Dank an unseren Gast-Rezensenten Raoul Schneider!

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