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Interview mit Harvest (23.06.2012)

Harvest

Nach einem Debüt, das beileibe nicht so öde ist, wie ein Kollege auf diesen Seiten beschrieben hat, kristallisierte sich spätestens mit dem zweiten Album von HARVEST ein eigener Stil heraus, der sich gleichwohl aus offensichtlichen Quellen tränkt. Sängerin Monique zeigt sich redselig zu „Chasing Time“ und darüber hinaus.

Zunächst einmal darfst du uns erklären, wie die Zusammenarbeit zwischen euch funktioniert. Ich stelle mir einen Clash zwischen nord- und südeuropäischer Mentalität haarig vor …

Ach, es gestaltet sich doch ein wenig anders, als es nach außen hin den Anschein hat, denn die gesamte Band lebt in Barcelona. In den Rezensionen, die wie in letzter Zeit gelesen haben, ist die Rede von einer niederländisch-katalanischen Band, aber unsere Staatsangehörigkeit spielt eigentlich keine Rolle.

Eurem Stil wohnt viel vom Progressive Rock der Neunziger inne – einer für künstlerische ambitionierte Sounds harten Zeit, da vor allem in Europa Dance und Techno den Geschmack der Masse bestimmten, während sogenannter Alternative eher Attitüden hervorkehrte als gediegenes Handwerk und tiefschürfendes Songwriting. Wie gestaltete sich eure Sozialisation mit Musik? Seid ihr euch auch des Erbes holländischer Progger wie Focus, Ekseption oder Egdon Heath bewusst?

Wie erinnern mit unserer Musik nicht bewusst an dieses und jenes Genre oder den Prog der neunziger Jahre, wie du meinst. Persönliche Einflüsse hat natürlich jeder von uns, und ja, wir hören auch Gruppen dieser Stilistik, allerdings nicht nur aus jenem Jahrzehnt. Während des Songwritings werfen wir eben alles in einen Topf, aber ich kann versichern, dass Assoziationen zu einem bestimmten Sound keine Absicht sind. Um ehrlich zu sein, kennen wir von den Bands, die du aufgeführt hast, nur Focus, aber danke für den Tipp.

Wie kam es zum Schulterschluss mit Alan Reed und Steven Rothery? Hattet ihr die beiden von vornherein im Sinn, oder seid ihr eher zufällig an sie geraten?

Steven sind wir kurz im Rahmen von Konzerten in Barcelona über den Weg gelaufen, wobei wir ihm unser erstes Album „Underground Community“ in die Hand drückten. Hinterher mailten wir einander wiederholt, und irgendwann bemerkte er, falls wir einmal seine Hilfe bräuchten, sollte wir uns melden. Für uns war dieses Angebot natürlich etwas Besonderes; wir bekamen es kaum wieder aus dem Kopf, denn der bloße Gedanke daran, dass eines unserer Idole so etwas gesagt hatte, mutete zu schön an, um wahr zu sein. So gut wie jedes Mitglied von HARVEST hört Zeit seines Lebens Marillion, und Stevens Stil ist für uns ohnegleichen, sehr elegant und hochemotional. Als wir schon mehrere Monate lang an „Chasing Time“ arbeiteten, kontaktierten wir ihn wieder und hakten nach, ob seine Offerte noch stehe. Das tat sie, weshalb wir ihm überglücklich „In Debris“ schickten, wozu er dann Slide-Gitarre und ein Solo spielte.

Was Alan betrifft, so hatte ich „Time Lapse“ von Anfang an als Duett mit einem Sänger ausgelegt. Zunächst stellte ich mir die Frage nach meiner Lieblings-Männerstimme: Welche bewunderte ich am meisten? Zweitens musste ich in Erwägung ziehen, ob und wie diese zu meinem Gesang passte, und die Lösung lag nahe, denn ich mochte Alans Beitrag zu Pallas und Abel Ganz schon immer. Seine Stimme besitzt eine spezielle Klangfarbe und vermittelt starke Gefühle. Ich schrieb ihm eine Mail, und er bot an, „Time Lapse“ probehalber zu hören. Danach dauerte es nicht lange, bis er sich zur Zusammenarbeit bereiterklärte, von der er sich eine Menge erhoffte.

Könnt ihr euch einen Reim darauf machen, weshalb gerade aus den Niederlanden so viele Bands mit Prog-Bezügen und Sängerin stammen?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass Progressive Rock dort schon immer beliebter war als anderswo, und dies wirkt sich eben auch auf den Stil von neuen Bands aus. Sowieso ist es nur natürlich, unbekanntes Terrain auszuloten, frische musikalische Wege zu finden und zu versuchen, weiblichen Gesang mit experimentellen und aufwändigeren Songs zu verbinden.

Was steht in Zukunft bei HARVEST an? Spielt ihr häufig live? Bloße Studiobands haben angesichts des gegenwärtigen Klimas innerhalb des Musikgeschäfts ja eher schlechte Karten.

Momentan treten wir nicht regelmäßig auf. Die schlechte wirtschaftliche Lage, von der du sprichst, bedingt auch, dass wir kaum über die Grenzen unserer Stadt hinauskommen. Veranstalter gehen kein Risiko mit wenig bekannten Bands ein, und weil wir alles selbst organisieren, gestaltet es sich umso schwieriger, Gigs aus der Ferne anzuberaumen. Dennoch hast du Recht: Der direkte Weg zu potenziellen Hörern führt über die Bühnen. Letztes Jahr spielten wir zum Beispiel auf dem ProgFarm Festival in Holland, das einen perfekten Rahmen für unsere Musik bot. Die Eindrücke, die wir von dort mitgenommen haben, nicht zu vergessen die vielen positiven Resonanzen aus unterschiedlichen Ländern innerhalb kürzester Zeit, stimmen uns für alles weitere zuversichtlich. Wir lassen nichts unversucht und werden bestimmt auch einmal die Chance erhalten, in anderen Gegenden aufzutreten.

Kein Interview ohne Textbezüge: „Roundabout“ gemahnt an Zeitverschwendung und Tretmühlen; sprecht ihr euch dafür aus, der Mensch möge im Inneren Kind bleiben und sich zum fortwährenden Hinterfragen der Welt zwingen? Was finden wir hinter dem „hidden gate“, um nicht spirituell zu veröden?

Zunächst will ich betonen, dass wir Wert darauf legen, dem Hörer eine Möglichkeit zur eigenen Interpretation der Texte zu gewähren. Es soll so funktionieren, als lese man ein Buch: Du siehst die Charaktere und Szenen nicht, sondern musst deine Fantasie bemühen. Auf die gleiche Weise sollte sich der Fan in unsere Geschichten einfinden, eben die Gedanken schweifen lassen.

Die Idee hierzu kam nach einer Geschäftsreise von Jordi. Er erzählte, wie er die falsche Abzweigung aus einem Kreisel genommen hatte und irgendwann auf einer schmalen Waldstraße vor einem Gatter stand. So fragte er sich, was dahinterstecken mochte, und was dir beim Lesen des Textes vorschwebte, ist insofern stimmig, als ich exakt das Gleiche im Sinn hatte, als ich ihn schrieb. Ich könnte es also nicht besser beschreiben. Hinter der Absperrung stellte ich mir einen ruhigen, friedlichen Ort vor, an dem man sich weder hetzen noch sorgen muss.

In Debris“ und „Silent Run“ schneiden offensichtlich heikle persönliche Themen an, also nur diese Frage: Haltet ihr disfunktionale Familien und zerrüttete Verhältnisse für entscheidende Faktoren im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten und Komplexen, die sich bei Kindern bis ins Erwachsenenalter hin fortsetzen?

Ich will nicht sagen, dass der eine oder andere von uns das Beschriebene am eigenen Leib erfahren hat, aber man bekommt eben am Rande gewisse Geschehnisse mit, die zum Schreiben animieren. Kaputte Familien und schlechte zwischenmenschliche Beziehungen, die auf mangelndem gegenseitigem Respekt beruhen, findet man überall. Die beiden Songs befassen sich mit solchen Geschichten, die mehr oder weniger jeder von uns erzählen könnte.

Time Lapse“ wiederum scheint ähnlich gelagert zu sein wie „Roundabout“, aber um welchen Ort handelt es sich, an dem der Sprecher so viele Nächte verbringen muss? Ist der Text dahingehend symbolisch zu verstehen, dass wir lernen müssen, eine dunkle Vergangenheit loszulassen?

Der Ansatz ist ein anderer im Vergleich zu „Roundabout“, das Hast im Alltag und Sehnsucht nach Stille anspricht. Hier dreht sich alles um eine Liebe an ihrem Ende, wobei beiden Seiten bewusst ist, dass es bald vorbei sein wird. Zugleich hadern sie damit, es sich einzugestehen, und deshalb stelle ich auch die Frage: „How many nights do we have to stay here and pretend.“ Die richtige Antwort lautet dann: „Its okay, just let go.“

Bei „The Machine“ tappe ich offengestanden im Dunkeln. Warum sprichst du von genau 37 Stufen, und was tut der Vater des jungen Protagonisten? Ich dachte zuerst an Selbstmord, aber das ist wohl doch ein wenig abwegig …

Beim Schreiben ließ ich mich von dem schönen Video zu „Cloudbusting“ von Kate Bush inspirieren. Der Vater darin, den Donald Sutherland spielt, wird wegen der Wolkenmaschine festgenommen, die er gebaut hat, und die Sängerin selbst rennt in der Rolle der Tochter oder des Sohnes hinter dem Polizeiauto her. Mein Text behandelt folglich eine Beziehung zwischen Vater und Sohn. Ersterer heischt die Anerkennung des Kleinen, doch statt mit Worten zu kommunizieren, strebt er eine wunders wie tolle Erfindung an. Wofür genau diese Maschine steht, darf jeder selbst entscheiden; jedenfalls will er sich damit Respekt bei seinem Sohn verschaffen, der jedoch sowieso schon zu seinem alten Herrn aufschaut. Letzten Endes handelt es sich also um ein großes Missverständnis, und dem Vater wird die Erfindung zum Verhängnis. Die Idee hinter dem Text lautet kurzgefasst: Warum verkomplizieren, obwohl sich vieles durch Gespräche lösen lässt? Kommunikationsprobleme können zu gewaltigen Irrtümern führen und missliche Situationen heraufbeschwören.

Yesteryear“ schwenkt zurück zu den bereits etablierten Motiven – verstreichende Zeit und persönlicher Verlust. Das Augenmerk scheint hier aber darauf zu liegen, dass jedes Opfer auch sein Gutes haben kann – oder konkret in diesem Fall: Jemand stirbt, und zugleich entsteht neues Leben …

Richtig, es geht um nichts weniger als die rasende Zeit. Der Text ist pure Nostalgie, denn indem man seine Kindheit Revue passieren lässt, bemerkt man deutlich, wie schnell alles vorbeigeht. Dann macht man sich Gedanken darüber, ob man als Erwachsener tatsächlich erreicht hat, was man sich einmal vornahm.

In „Stars“ verhärtet sich dieser Eindruck. Aus Nostalgie wird im Einklang mit den Schlüsselbegriffen Distanz und Natur – Refugien für die geschundene Seele – eine Art von Eskapismus, nicht wahr?

Auch das stimmt, und deine Erklärung gefällt mir sehr. Hierbei handelt es sich in der Tat um einen persönlichen Text. Ich versuchte beim Verfassen, meiner melancholischen Wesensart habhaft zu werden und die Gründe dafür zu subsumieren, dass ich an meinen Wurzeln festhalte.

In „Unknown Skylines“ wird das Problem einer rückwärts gerichteten Denkweise offenbar: Die Vergangenheit erweist sich in einer neuen Umgebung, die Potenzial für die Zukunft birgt, als hinderlich, und sowohl „The Spell“ als auch „Intuition“ berharren auf dieser Tatsache. Wir müssen uns entscheiden, ob wir die Vergangenheit als Waffe gegen uns selbst richten oder zu unserem Nutzen einsetzen möchten.

Absolut, wenngleich es die drei Stücke von jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten beleuchten. Das Fazit lautet wirklich: Nutze das, was vergangen ist, für ein besseres Jetzt, wandle negative Erfahrungen in eine positive Zukunft um. In „The Spell“ ist es besonders offensichtlich, wie etwas Unangenehmes zur Hilfe gereichen kann, wohingegen „Unknown Skylines“ weniger weit ausholt: Man sollte, wenn man arge Nöte aussteht, ohne Furcht Unterstützung suchen.

Womit wir am Ende angelangt wären – vielen Dank!

Andreas Schiffmann (Info)
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