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Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase. - Massen-Review

23.02.2015

Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase. CoverEs ist durchaus überraschend, wie sehr "Hand. Cannot. Erase.", das fünfte Soloalbum von STEVEN WILSON polarisiert. Selbst in unser kleinen, friedlichen Redaktion wurde die Diskussion rund um das Album ungewohnt hitzig - was sicherlich eher für, als gegen die Scheibe spricht. Ähnlich sieht es bei den großen Printmagazinen aus. Hier gewinnt es den Soundcheck, dort landet es auf Platz 56 - von 60. Doch schon bevor klar war, dass dieses Album die Gemüter erregen würde - im positiven, wie auch im negativen - entschlossen wir uns, es dem Massen-Review zu unterziehen. Mit folgendem, dann doch wieder überraschenden Ergebnis:



Review von: Andreas Schiffmann (Profil)


Wenn STEVEN WILSON auf seinem vierten amtlichen Soloalbum von der Britin Joyce Carol Vincent erzählt, die erst zwei Jahre nach ihrem Tod in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, fühlt der Säulenheilige des Prog dem Menschen von heute wieder einmal auf den Zahn.

"Hand.Cannot. Erase." erzählt von der Anonymität in der Masse und stellt die gleiche Bandbesetzung wie zuletzt vor, lediglich mit dezenter Schwerpunktverlagerung. Das urbane Thema findet vereinzelt in elektronischen Beats und vom Keyboard dominierten Parts Ausdruck, während die Gruppe anderswo Metal-Gefilde durchquert. Dabei funktioniert die Scheibe als Gesamtwerk wie abseitige Liedersammlung: Dem eröffnenden ‘3 Years Older’ mit seinem Vorspiel Ambient ‘First Regret’ und dem 14-minütigen ‘Ancestral’ stellt die Gruppe ‘Home Invasion’ (bedrohliche Stakkatos) anheim, das wiederum in ‘Regret #9’ übergeht, eine Spielwiese für solistische Synthesizer-Ausflüge; die andere Seite bilden wie gewohnt kompakte Songs wie das Titelstück mit der Schlüsselzeile des Albums, ‘Perfect Life’ mit seinem eindringlichen Sprechpart und das rührende Doppel aus ‘Routine’ ("keep your house clean", Leute) und ‘Happy Returns’.

Vor allem letzteres adelt WILSON als ganz klassischen Songwriter der Beatles-Schule, der das Klavier auf diesem Album obendrein endgültig als für sich ebenso wichtiges Instrument ins Schlaglicht rückt wie die Gitarre. Dann etwa noch über die mordsmäßige Rhythmusgruppe zu jubeln oder die atemberaubende Detailfreude zu loben wäre im Zusammenhang mit diesem Künstler müßig.

FAZIT: "Hand. Cannot. Erase." wird Ende 2015 und darüber hinaus noch spannend sein und überzeugt durch Inhalte wie verboten viel Klasse, was seine Inszenierung angeht. Das ist man zwar von diesem Mann gewohnt, aber als selbstverständlich erachten muss man es nicht; stattdessen freut man sich über einen Musiker, der sich selbst treu bleibt und doch nicht wiederholt.

13 von 15 Punkten


Review von: Andreas Schulz (Profil)

Es ist erstaunlich, mit welch vermeintlich einfachen Mitteln es STEVEN WILSON auf "Hand. Cannot. Erase." gelingt, Stimmungen zu erzeugen und Gefühle zu vermitteln. Vermeintlich einfach deshalb, weil besonders im ersten Teil der Pop-Faktor bei einigen Songs unerwartet hoch ist und diese Songs auf ausuferndes Prog-Gefrickel weitestgehend verzichten und Einfachheit vermitteln. Dass die bei genauerem Hinhören verschwindet und - natürlich - spieltechnische Perfektion und Hochwertigkeit vorliegen, versteht sich eigentlich von selbst. Genauso wie die Tatsache, dass "Hand. Cannot. Erase." einen perfekten Sound hat.

Zweieinhalb Minuten lang leiten elektronische Sounds in "First Regret / 3 Years Older" ein, bevor der es mit halbakustischen Gitarren zunächst in proggig rockende Gefilde geht, danach baut sich das zwölfeinhalbminütige Stück mit ruhigem Gesang neu auf. Schon jetzt wird deutlich, dass Wilson die Geschichte von Joyce Vincent, die mit 38 Jahren starb und erst drei Jahre später in ihrer Wohnung in London aufgefunden wurde, mit sehr einfachen Worten erzählt. Was wiederum den Reiz daran ausmacht. Natürlich könnte man eine so dramatische Geschichte, in der die Isolation in der heutigen Gesellschaft thematisiert wird, mit Metaphern und großen Worten ausschmücken - so jedoch ist das Gehörte viel direkter und dadurch intensiver. Nach sieben Minuten bäumt der Song sich dann auf, rückt Klavier und Gitarren in den Fokus und mündet schließlich in ein dreiminütiges Abfahrtsfinale.

Der folgende Titelsong ist eine formidable Poprock-Nummer mit Gesangslinien, die bewegen und anrühren - in leicht verändertem Soundgewand würden Placebo mit der Nummer einen Riesenhit landen, denn die Melodieführung und der Aufbau erinnern durchaus an die Hits der Alternative-Rocker. "Perfect Life" startet mit triphoppiger Elektronik und weiblichem Sprechgesang, der von der kurzen aber intensiven Freundschaft zwischen einer 13- und einer 16-jährigen erzählt. So einfach, dass es jeder versteht und doch so eindringlich. Gleiches gilt für das das nachfolgende "Routine" - Wäsche waschen, Boden wischen, Katze füttern - nie hat die Beschreibung von alltäglichen Dingen so berührt. Was auch an der melancholischen Grundstimmung, die an neuere Anathema erinnert, liegt. Und wenn man sich mit der Kernaussage "Routine hält mich am Leben" gedanklich näher befasst, so stellt man fest, wie viel Wahrheit darin steckt.

Elfeinhalbminuten lang ist "Home Invasion / Regret #9" klassisches Wilson-Geprogge der etwas weniger songorientierten und düsteren Art, "Transcience" ein ruhiges Intermezzo. "Ancestral" vereint dann alles, was eine monumentale, ausufernde Progrock-Komposition aufbringen muss, hier dürfen sich dann auch alle betiligten nach Herzenslust austoben. "Happy Returns / Ascendant Here On…" kehrt dann zum Abschluss zurück zum leichtfüßigen Song mit einfachem Wort - und verfehlt seine Wirkung erneut nicht.

FAZIT: Das Schaffen von STEVEN WILSON ist und bleibt einzigartig. Auch mit "Hand. Cannot. Erase.", das wegen mir die Ausrichtung der ersten Albumhälfte in der zweiten ruhig noch hätte fortführen können.

12 von 15 Punkten


Review von: Norman R. (Profil)

Tausendsassa, Genie, Arbeitstier. STEVEN WILSON ist eine feste Größe im verwinkelten Prog-Rock-Universum und hat sich diese Stellung genauso redlich verdient wie hart erarbeitet. Der smarte Brite hat über die Jahre so viele Projekte, Kollaborationen und Gastauftritte angehäuft, dass einem beim Zählen und Staunen schwindlich wird, genauso wie bei der Auflistung seiner klanglichen Aufbereitungen von u.a. KING CRIMSON-, JETHRO TULL- und EMERSON, LAKE & PALMER-Klassikern. Ein Pensum, das im Aufwand eigentlich schon einem Vollzeitjob entspricht.

Doch ganz nebenbei pflegt der Vollblutmusiker noch seine erfolgreiche Solokarriere, die ihn mehrmals um den Erdball und zuletzt auf Platz drei der deutschen Charts gebracht hat. "Hand. Cannot. Erase" ist bereits das dritte, bis zum Rand gefüllte und qualitativ hochwertige Album seit 2011, als sich PORCUPINE TREE auf Eis legten und lässt darauf schließen, dass STEVEN WILSON weiterhin gewillt ist mehrere Spagate gleichzeitig hinzulegen.

Mit einem klaren Plan im Kopf, von einer begnadeten Band (Marco Minnemann zieht am Schlagzeug ein weiteres Mal alle Register) umgeben und einem klasse Sound gesegnet, kehrt STEVEN WILSON sein Innenleben nach außen und ist dabei glücklicherweise dazu bereit zu seinem Emotionen zu stehen. Anspruch und Technik liegen nur dann nackt und kantig aus, wenn es einen Grund dafür gibt (‚Home Invasion‘), viel öfter werden vertrackte Rhythmen so aufbereitet, dass sie einem gar nicht sofort auffallen (‚Routine‘). Der Titeltrack könnte sogar im Radio laufen und das auf Party und Sex eingestellte Publikum endlich mal wieder an seine Emotionen erinnern.

Der Sound der Instrumente wird mit jedem Song neu ausbalanciert, um jede Facette des Wilson’schen Klangkosmos passend in Szene zu setzen. Zu den traditionellen Prog-Rock-Momenten (v.a. KING CRIMSON) inklusive Western-Gitarre, Flöte und Keyboards gesellen sich auch ein paar ungewohnte Klänge, wie z.B. das von melancholische Piano-Elektro-Intro ‚First Regret‘, das etwas zu sehr an die Soundtracks von TRENT REZNOR erinnert oder das von elektronischer Percussion untermalte ‚Perfect Life‘, wirklich neu ist auf "Hand. Cannot. Erase.“ aber nichts. Wie in ‚Home Invasion‘ lässt sich der Maestro außerdem unnötigerweise auf etwas überzogene, pathetische Gitarrensoli ein, die es nun wirklich nicht gebraucht hätte.

Während auf dem Vorgänger "The Raven…“ noch alles wie aus einem Guss wirkte, lässt sich hier trefflich über die Songanordnung streiten. Zu Beginn ballen sich zu viele, wenn auch hochklassige Popmomente, der nötige Kontrast in Form von Härte findet erst zum Ende hin ausreichend Anwendung. Doch trotzdem überzeugen die neuen Songs größtenteils, weil sie zu jeder Zeit durchkomponiert wirken, aber eben auch genug Luft bekommen haben, um sich im Songwritingprozess entwickeln zu können. Der Rahmen stimmt, der Inhalt ist ausgewogen, "Hand. Cannot. Erase.“ ist ein gutes, aber kein überragendes Album.

FAZIT: Bei STEVEN WILSON ist erst mal alles Jammern auf hohem Niveau. Spieltechnisch sind er und seine Band auf Weltklasseniveau und bekommen glücklicherweise den dazu passenden Weltklassesound. Gewohnt sicher sind die Songs komponiert und bilden einen Streifzug durch traditionelle und neuere Prog-Rock-Geschichte, ab und an lehnt sich der Brite aber etwas zu weit aus dem Fenster und lässt etwas Feingefühl und Eigenständigkeit vermissen. Trotzdem gelingt ihm abermals ein in sich stimmiges und sympathisches Album, das Herz und Hirn gleichermaßen erfreut und sowohl zum Träumen als auch zum stundenlangen Auseinanderdividieren einlädt.

11 von 15 Punkten


Review von: Sascha Ganser (Profil)

PORCUPINE TREEs "The Incident" wird rückblickend oft als Abschied von der Band betrachtet, der zur Entstehungszeit schon besiegelt war. Steven Wilson sei in Gedanken bereits woanders gewesen und das habe sich auf die Musik niedergelegt, die eine Sehnsucht nach Individualität ausgestrahlt habe. Und erstaunlich ist es in der Tat, wie sehr sich das immer noch letzte PT-Album als Schlüsselwerk für Wilsons weiteres Schaffen erwiesen hat: Wieder fühlt er sich hingezogen von einer Geschichte, die einen speziellen Vorfall zum Mittelpunkt hat, und wieder zerlegt er sie in musikalische Schlussfolgerungen, die nur er selbst in dieser Form ziehen kann. So entfacht er das Licht über dem Betrachtungsgegenstand von neuem und ebnet zugleich den Weg für seine persönliche Inspiration, die er mit Hilfe extrem versierter, aber wohl vergleichsweise einflussloser beziehungsweise rein exekutiver Mitstreiter an den Instrumenten zum Leben erweckt.

Es ist und bleibt bemerkenswert, mit welcher Distanz zum eigentlichen Geschehnis er diesen Weg antritt. "Dreams Of A Life", die Dokumentation über Joyce Vincent, eine beliebte junge Frau, die zwei Jahre lang unbemerkt tot in ihrem Londoner Apartment lag, inspirierte Wilson zu "Hand. Cannot. Erase.". Wo Andere das eigene Werk emotional eng mit der Inspiration verknüpfen würden, meidet Wilson jede (anlässlich fehlenden persönlichen Bezugs deplatzierte) Zurschaustellung von persönlicher Anteilnahme und begreift Vincents Schicksal eher als Anlass für ein künstlerisches Statement. Gleichwohl bedeutet das nicht, das hat der Brite in seiner vergleichslosen Karriere immer wieder bewiesen, dass Emotionen nicht eine wichtige Rolle spielen würden; sie beziehen sich jedoch selten auf Spezielles oder Intimes, sondern verströmen eher eine metaphysische Universalität.

Für die Geschichte von Joyce Vincent gibt er den Stil, den er über die letzten Jahre solo entwickelte, keineswegs komplett auf; im Gegenteil, viele Passagen lassen nur allzu sehr Déjà-Vus jenes Sounds auf uns niederprasseln, der das Selbstverständnis zeitgemäßen Progs maßgeblich beeinflusst hat. Dennoch ist "Hand. Cannot. Erase." bei aller Vertrautheit wieder so viel anders als noch "The Raven That Refused To Sing" und überhaupt alles, was Wilson bislang gemacht hat. Und dann wieder nicht; denn streift sein melancholischer, auf "Home Invasion" gar wieder den "In Absentia"-Metal streifender Blick auf das gesellschaftliche Umfeld nicht wieder die bittere Anklage, die in "Fear Of A Blank Planet" vorgetragen wurde? Um dann aber doch wieder Strahlenbüschel durch die Düsterwolken zu jagen.

Diese Ungreifbarkeit, das permanente Pendeln zwischen Vertrautheit (mitunter vielleicht in allzu starker Dosierung) und kompletter Befremdung mag nach dem konsens- und somit Hurra-fähigen "Raven" einen Teil des Publikums verwirren, obwohl der stilistische Turn vom komplex verspielten Jazzprog zum experimentell-poppigen Artrock mit Vorbild von KATE BUSHs "The Dreaming" keine nennenswerte Entfernung vom (immer noch nicht ganz sichtbaren) Mainstream darstellt. Radikaler als die eigentliche musikalische Veränderung ist vielleicht auch eher die Konzeptualisierung: "Insurgentes" noch die ätherische Übersteigerung einer im Rausch erlebten Realität, "Grace For Drowning" die wild wuchernde Fragmente-Kollektion, "Raven" das ohrschmeichelnde Märchenbuch und nun der abrupte Rutsch in die urbane Kühle des allseits berüchtigten "based on a true story". Frauengesang als Konventionenbruch innerhalb des Wilson-Kosmos nebst hymnischen Pop-Melodien, die dem Kenner seit BLACKFIELD wiederum hochvertraut sind; kitschige Nostalgie, die sich hinter bitterer Gegenwart verbirgt – all das und mehr packt Steven Wilson auf eine Platte.

"Hand. Cannot. Erase." ist also gleichermaßen ein alter Hut und doch ein Novum, voller Klischees, die Wilson selbst begründet hat, und doch ohne die ganz offensichtlichen Reminiszenzen, auf die "Raven" vertraute. Es gibt Momente, da meint man, jedes einzelne Riff so sehr durchschaut zu haben, dass das Ganze nicht über die Summe seiner Teile hinausgeht; dann wieder erlebt man vollkommen gegenteilig pure Euphorie und erkennt in den Übergängen der grundverschiedenen Einzelteile etwas Großes.

FAZIT: Der Rabe hat Steven Wilson ins kollektive Bewusstsein befördert, und wird es zur unausweichlichen Frage kommen: Kann sein viertes Soloalbum sein drittes übertreffen? Es bleibt zum Glück eine rhetorische Frage, denn erwartungsgemäß geht "Hand. Cannot. Erase." diesem Vergleich aus dem Weg. Die musikalische Handschrift auf kann man trotz stilistischem Richtungswechsel mühelos aus seinen alten Veröffentlichungen zusammenklauben, doch alleine das Storykonzept ist so grundlegend atypisch, dass jene Eigenständigkeit bewahrt bleibt, die es erlaubt, selbst nach so vielen Jahren mit Wilson Aufregung zu verspüren, wenn man die Folie von der Verpackung nimmt. Keine Routine.

13 von 15 Punkten


Review von: Thoralf Koß (Profil)

Steven Wilson ist immer wieder für eine Überraschung gut - und irgendwann müssten und werden diesem Ausnahmemusiker mal die Ideen ausgehen, denkt man zumindest. Eins jedenfalls ist klar: darauf müssen wir mindestens noch bis zum nächsten Wilson-Album warten, denn "Hand. Cannot. Erase" ist zwar beeindruckend ausgefallen, wie der zurecht überall hoch gelobte Vorgänger "The Raven That Confused To Sing", was definitiv nicht nur daran liegt, dass auf seinem 2015er Werk so einige musikalische Parallelen, besonders in verschiedenen Keyboard- und Piano-Linien, zum Vorgänger zu entdecken sind.

Aber es gibt auch einen unübersehbaren Schatten, der sich schmerzvoll auf den Gesamteindruck dieses neuen 2015er Wilson-Werks legt, denn es scheint ein gewisser Stillstand bei Mr. Wilson eingesetzt zu haben. Wer nämlich ständig so über den grünen Prog-Klee gelobt wird, ertrinkt vielleicht eines Tages in Selbstzufriedenheit und verkauft uns Konzept-Alben, die sich höchstens einem neuen textlichen Konzept unterwerfen, aber nicht mit der gleichen Konsequenz dies auch musikalisch verwirklichen.
Oder klingen ab sofort Steven-Wilson-Alben immer den Alben ähnlich, die er zuvor mit hohem Aufwand und Können gemixt hat?
Zu "Raven"-Zeiten waren das KING CRIMSON - zu "Hand"-Zeiten TEARS FOR FEARS.

Nach "Hand. Cannot. Erase" macht sich bei mir immer stärker der Eindruck breit, dass sich STEVEN WILSON mehr und mehr bei den Musikern bedient, deren vergangene Großtaten er vor seinem Mischpult-Regler hat. Natürlich wird dabei auch Eigenes nicht ausgelassen.
Nur muss "Routine" wirklich nach der "Raven"-Routine seines 2013er Vorgänger-Albums klingen? Auch wenn diesmal weiblicher Gesang in dem Song auftaucht, bleiben einfallslose Parallelen unverkennbar, die einem beim Hören: "Das kennst du doch schon!", ins Ohr flüstern. Genau diese Erkenntnis verfolgt den Hörer die 66 Album-Minuten lang.

Natürlich ist auch der neuste Wilson-Output wieder perfekt eingespielt - mit begnadeten Musikern und voller Vielfalt, die sich zwischen (Achtung!) Pop und Prog bewegt. Balladen und komplexes Musik-"Zeuch" halten sich gegenseitig die Stange. Nur fehlt im Gegensatz zur Geschichte des Albums, deren Idee auf einem Dokumentarfilm beruht, in dem es um die Entfremdung, dargestellt anhand eines tragischen, lange Zeit unentdeckten Sterbefalls geht, der Musik ein wirklich erkennbarer Zusammenhang.

Was vor zwei Jahren noch eine Symbiose war, erscheint nunmehr wie aneinandergereihtes Musik-Stückwerk. Jedes Teil klingt dabei für sich reizvoll, aber in seiner Gesamtheit nur wenig überzeugend. Ab sofort wissen wir also, was wohl ein "typisches" Wilson-Album ist.
Höchste Zeit, um den fast zwanghaft agierenden Autokraten wieder ein paar gleichberechtigte Musiker an die Seite zu stellen!
Liebe PORCUPINE TREE, es wird langsam wieder unerlässlich für euch, die Geschicke eines zwar sympathischen, aber irgendwie auch überarbeiteten Musik-Einzelgängers, nicht nur als Begleiter in die Hand zu nehmen!

FAZIT: Ambitioniert - klingt anders! Routiniert - passt da eher!

11 von 15 Punkten


Review von: Markus L. (Profil)

Mit "Insurgentes" als Soloprojekt ins Leben gerufen, mit "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" jedoch zum beständigen Bandgefüge gereift, folgt mit "Hand. Cannot. Erase." der vierte Longplayer unter dem Banner STEVEN WILSON. Stellte der Vorgänger gemäß dem Titel noch eine Ansammlung von Kurzgeschichten dar, so widmet sich Wilson diesmal erneut seiner Vorliebe für Konzeptalben. Thematisch behandelt er dabei die tragische Geschichte einer mitten im Leben stehenden Frau, deren plötzlicher Tod trotz aktivem sozialen Umfeld für über zwei Jahre unentdeckt blieb. Auf "handcannoterase.com", einem eigens eingerichteten Blog, finden sich diverse fiktionale Tagebucheinträge der Protagonistin und liefern Interessierten reichlich zusätzliches Futter zu einem ohnehin außergewöhnlichen Hörerlebnis.

Doch wie jedes Album des umtriebigen Briten wird auch Album Nummer vier sich einer zentralen Herausforderung stellen müssen: der Erwartungshaltung. Wer also davon ausgeht, dass "Hand. Cannot. Erase." das metaphorische Rad progressiver Musik neu erfindet oder ohnehin der Meinung ist, dass die stets angeführten - und auch diesmal nicht von der Hand zu weisenden - Parallelen zu KING CRIMSON und Co. niemals dem Original das Wasser reichen können, dem wird es erneut nicht an Ansatzpunkten für Kritik mangeln. Auch diverse Selbstreferenzen, sei es zu BLACKFIELD, NO-MAN oder gar PORCUPINE TREE, werden aufmerksamen Hörern kaum entgehen. Die Prämisse lautet daher anno 2015 nicht Innovation, sondern Perfektion. Seine ganz persönliche Erfolgsformel scheint STEVEN WILSON inzwischen gefunden zu haben, nun kann zum Feinschliff angesetzt werden, den es keineswegs mit Stagnation zu verwechseln gilt.

Dies beweist ohne Umschweife das eröffnende Doppel "First Regret" / "3 Years Older", das mit der Atmosphäre von "Insurgentes", der Experimentierfreude und dem elektronischen Einschlag von "Grace For Drowning" und der individuellen Klasse der auf "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" hinzugewonnenen Mitmusiker all die mit der Zeit angesammelten Stärken zu einem homogenen und vor Dynamik nur so strotzenden Ganzen vereint. Dynamik ist auch das Stichwort für das Arrangement der formal elf, tatsächlich jedoch eher acht Stücke des Albums, wodurch all diese wohl durchdacht positioniert und damit geschickt in Szene gesetzt werden. So folgt beispielsweise auf das eröffnende Prog-Feuerwerk konträr der fast schon poppig anmutende Titeltrack.

Besondere Beachtung verdient jedoch das elektronisch geprägte "Perfect Life", das sich gewissermaßen als Herzstück des Albums entpuppt. Hier zeigt sich nicht nur wie perfekt die Symbiose aus Musik und Konzept ausfallen kann, sondern offenbart zugleich auch unweigerlich den einzigen nicht hinwegzudiskutierenden Kritikpunkt des Albums. Denn Abseits dieses Tracks und der überraschend spärlich gesäten Vocals durch Gastsängerin Ninet Tayeb, ist vom Konzept herzlich wenig zu spüren. Womit man wieder beim Thema Erwartungshaltung angelangt wäre, die hier im Vorfeld bewusst geschürt und resümierend schlicht nicht erfüllt wird.

FAZIT: Legt man es darauf an, so finden sich auch auf "Hand. Cannot. Erase." Kritikpunkte. Rein musikalisch betrachtet suchen die elf Stücke jedoch in Sachen Komposition, Produktion und Umsetzung ihresgleichen. Besonders die Fülle an Details und Wilsons unvergleichliches Gespür für Sounddesign führen mehr als einmal zu beinahe ungläubigem wie ehrfürchtigem Kopfschütteln. Und auch wenn STEVEN WILSON die große Innovation schuldigt bleibt, so verdient sich dieses Werk dennoch ohne jeden Zweifel das Prädikat "zeitlos" und reiht sich damit mühelos an der Spitze des Schaffens unter diesem Banner ein.

15 von 15 Punkten

Durchschnittspunktzahl: 12,5 von 15 Punkten.

Damit Einstieg auf Platz 3 in den Massen-Review-Charts.

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Andreas Schulz (Info)