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Interview mit Vespero (28.08.2012)

Vespero

VESPERO aus Russland gehören zu den besten Space-Rock-Gruppen überhaupt, weil sie anders als das Gros ihrer schwurbeligen Kollegen spannende Songs schreiben: Deshalb war es uns eine Pflicht, die beiden Strippenzieher zum aktuellen Geschehen in der Band zu befragen. 

Hallöchen! Ich habe endlich einen Fragenkatalog für euch zusammengestellt. Nehmt euch Zeit zum Antworten.

Hi, Andreas, Arkady und Ivan hier. Danke dafür, dass ihr uns ein Forum auf Musikreviews.de bietet. Schieß los!

Ich tue mich schwer, Instrumentalbands zu interviewen, weil ich mich gerne Songtexten widme. Warum haben VESPERO keinen Sänger, und glaubt ihr alles ausdrücken zu können, was euch vorschwebt, obwohl niemand singt?

Arkady: Wir fingen vor ungefähr neun Jahren an, gemeinsam Musik zu machen. VESPERO kommen aus Astrachan im Süden Russlands und hatten ursprünglich eine Sängerin, die aber nach St. Petersburg umsiedelte, um weiter Musik zu studieren. Statt nach einem Ersatz zu suchen, beschlossen wir, instrumental weiterzumachen. Wir sind der Ansicht, dass Wörter mitunter versagen, wenn es ums Vermitteln von Emotionen oder anderen Botschaften geht.
Ivan: Nur zwei unserer bisherigen Alben kommen gänzlich ohne Gesang aus, das neue und “By The Waters Of Tomorrow”. Ob wir alles ohne Sänger ausdrücken können, was wir uns vorstellen? Nun ja, es gibt viele reine Instrumentalbands im Bereich zeitgenössischer Psych- oder Prog-Mucke, und wir würden uns beileibe nicht als perfekte Instrumentalisten bezeichnen. Zumindest sind wir aber lernwillig und versuchen und, mit jeder neuen Veröffentlichung auf diese oder jene Weise zu verbessern.

Wie seid ihr auf Mat Ruffs “Die Trilogie der Stadtwerke” gestoßen, und welchen Reiz übt der Roman auf euch aus? Beeinflussen euch auch andere Autoren der Gegenwart?

Arkady: Das Buch ist ein echtes Lesevergnügen. Der Untertitel unserer neuen Scheibe stammt ja daraus: “U-Boats Willkommen Hier”, und wir entdeckten es eigentlich zufällig kurz vor der Fertigstellung des Albums. Somit hat es die Musik nicht direkt beeinflusst, aber dieser groteske Slogan fasste unsere Empfindungen und Beweggründe ziemlich gut zusammen. Ich liebe davon abgesehen Lyrik, gerade aus der Zeit des russischen Futurismus und französischen Realismus.
Ivan: Ich lese an und für sich lieber ernste Literatur, habe aber auch nichts gegen Satire. Das Leben heutzutage ist speziell in Kleinstädten wie unserer nichts weiter als eine bizarre Projektion weithin etablierter gesellschaftlicher Normen und Ideale, wenn du verstehst, was ich meine.

Was finden vor allem Künstler aus dem ehemaligen Ostblock so verlockend an Deutschland, dass sie sich etwas dem Nationalsozialismus von einer humorvollen Seite widmen? Ich denke da an Bands, die sich Adolf Castle nennen und dergleichen.

Arkady: Schande über mich, von denen habe ich noch nie gehört, genauso wenig wie von anderen russischen Bands, die sich über Deutschland belustigen. Schließlich hatten wir hier unsere eigene ideologische Besessenheit, den Bolschewismus, und auf diesen reagierte die Untergrundkunst im Land, seien es Literatur oder Musik, definitiv mit recht schrägen Ergüssen.
Ivan: Also, wir hatten nichts dergleichen im Sinn. In erster Linie geht es auf dem Album um die Erschließung der Antarktis und ein deutsches U-Boot beziehungsweise Selbstmordkommando, nicht zu vergessen Verschwörungstheorien um Neuschwabenland im Osten jener Region. Wir wollten einen Teil der deutschen Geschichte wiedergeben, was insofern stimmig ist, weil sich die Musik an eurem Krautrock aus den Siebzigern orientiert.

Futurismus ist ein weites Feld. Wo sollten Unbedarfte beginnen, die sich dafür interessieren?

Arkady: Russischer Futurismus war gemeinsam mit Bewegungen wie dem Symbolismus, Akmeismus und mystischem Anarchismus ein Teil des sogenannten Silbernen Zeitalters zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es endete im Zuge des Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1922. Viele brillante Künstler wurden hingerichtet oder verließen das Land für immer.
Ivan: Astrachan ist auch die Heimat des großen Dichters und Visionärs Welimir Chlebnikow. Er war einer der maßgeblichen Vertreter des Futurismus, und der Einfluss der Strömung auf aktuelle Kunst im Land – Malerei, das Theater, Schriftsteller und Musiker – kann nicht unterschätzt werden Leider weiß ich nicht, inwieweit Material aus dem Silbernen Zeitalter im Ausland wahrgenommen wird, aber wer unserer Sprache mächtig ist dem empfehle ich Gileya Publishing (http://hylaea.ru/) und die Kunstbände von Kontakt-Kultura (http://www.plakat.ru/). Auch nach Namen könnt ihr im Netz suchen: Innokenti Annenski, Dmitri Mereschkowski, David Dawid Burljuk, Nikolai Gumiljow, Alexei Wassiljewitsch Kamenski oder Ossip Mandelstam.

Wie haltet ihr es genau mit dem Krautrock? Ein Großteil der Bands, sieht man von den einschlägigen Namen ab, werden nach wie vor als Fußnoten belächelt.

Ivan: Ich persönlich halte Krautrock – nicht Deutschrock generell – für eine der innovativsten und für die Zukunft am meisten versprechenden Musikrichtungen der Siebziger. Tangerine Dream, Can, Amon Düül II, Popol Vuh, Ash Ra Tempel, Faust, Cluster, Neu! und so weiter schenkten dem Rock neue Sichtweisen und musikalische Formen, kombinierten traditionelle Instrumente mit elektronischen und rissen Grenzen ein. Wir hegen ein starkes Interesse am Erbe des Krautrock, verstehen uns aber nicht als Vertreter des Stils. Vielmehr wollen wir etwas Anderes daraus machen, Space Rock, Progressive, New Age und was auch immer sonst damit verbinden, um unseren eigenen Vorstellungen gerecht zu werden.
Arkady: Ich weiß, dass die Briten damals steiler auf den Krautrock gingen als ihr selbst. Falls die Deutschen heutzutage Acts wie Sula Bassana, Electric Orange, Vibravoid, Colour Haze, Rotor oder My Sleeping Karma ignorieren, müssen wir wohl bedauern, dass sich die Geschichte wiederholt.

Warum hat Russland eurer Meinung nach keinen nachhaltigen Eindruck in der Rockwelt hinterlassen?

Arkady: Fakt ist, dass wir lange vom Rest der Welt isoliert waren. Ferner wurde jedweder Nonkonformismus unterdrückt, doch nach dem Niedergang des Kommunismus schickten sich die Russen rasch an, die literarischen und musikalischen Entwicklungen der sechziger bis in die achtziger Jahre nachzuholen. Seit Beginn der Neunziger sind eine Menge interessanter Rockbands entstanden, bloß gibt es immer noch das Problem, dass sich weite Teile der Bevölkerung weiterhin hinter dem Eisernen Vorhang wähnen, obwohl uns der Rest der Welt theoretisch offensteht.
Ivan: Wollte man als einheimische Band in Europa oder den Staaten spielen, müsste man einen bürokratischen Wust auf sich nehmen, ganz zu schweigen von hohen Visa- und Ticketkosten, Sprachbarrieren und so weiter. Mit anderen Worten: Die meisten russischen Independent-Musiker fühlen sich nicht der globalen Szene zugehörig, sondern bevorzugen es, lokal im Kleinen zu spielen.

Wie würde russischer Rock und Pop ohne den Einfluss des Westens klingen, also wenn er sich auf das musikalische Erbe eurer Kultur beriefe?

Arkady: Schwierige Frage. Russische Folklore und das Vermächtnis der verschiedenen Ethnien in unserer Region bleiben in isolierten Räumen bestehen, wohingegen Pop und Rock das Ergebnis eines fortschreitenden kulturellen Austauschs sind. Der Einfluss afrikanischer oder fernöstlicher Musik auf europäischen Rock und Pop etwa fällt enorm aus.
Ivan: Beides sind weltweit beobachtbare Phänomene, also Rock und Pop. Sie sind zustande gekommen, weil Künstler frei auf verschiedene Traditionen zurückgreifen und munter mischen konnten, was ihnen aus allen Himmelsrichtungen zuflog.

Wie wurdet ihr selbst mit Rockmusik sozialisiert? Was bewog euch zu Klangexperimenten?

Arkady: Wow, findest du wirklich, dass wir experimentelle Musik machen? Unser Label meint immer, wir seien im Vergleich zu Merzbow zu traditionell ausgerichtet. Zunächst einmal handelt es sich bei VESPERO nicht um Berufsmucker, also wissen wir nicht, wie man genormte Sounds mit kommerziellem Potential entwickelt. Somit bleibt uns nichts weiter übrig, als unserer Intuition zu trauen … und freuen uns umso mehr, wenn jemand etwas mit unserem Kral anfangen kann.

Womit verdient ihr euren Lebensunterhalt?

Arkady: Ich arbeite im logistischen Bereich für eine Fabrik vor Ort.
Ivan: Ich bin Möbelschreiner – ein verflucht guter übrigens.

Wie seht ihr als Underground-Band illegal heruntergeladene Musik?

Arkady: Legal ist immer besser; wer Files direkt von Indie-Bands oder -Labels kauft, bewahrt den Untergrund vor dem Kollaps.
Ivan: Mit illegalen Downloads muss man wohl leider leben. Wenn es aber nach mir ginge, wäre alle Musik weltweit frei zugänglich … solange man den Erzeugern ein reguläres Gehalt dafür zusicherte.

Kann man von einer lebendigen Prog-Szene in Russland sprechen? Gibt es ein funktionierendes Netzwerk, also Musikpresse, Club-Infrastrukturen und so weiter?

Ivan: Die Szene bei uns beschränkt sich ums InProg Festival und die Zeitschrift InRock. Daneben existieren mehrere Webzines, die über Prog Metal berichten, und eine Handvoll Labels, die sich softerem Prog widmen. Müsste ich die besten russischen Bands aus diesem Bereich nennen, dann The Kostarev Group, Disen Gage, Kalutaliksuak, Human Factor und Roz Vitalis.

Könnt ihr bestätigen, dass man im Ostblock mehr Wert auf Kunsterziehung legte? Wir kennen das von Zeitzeugen aus der ehemaligen DDR, die oft eine im Vergleich zu den Westbürgern überragende Musikausbildung in der Schule genossen haben.

Arkady: Gut möglich, obwohl … Ich selbst kann nicht behaupten, vom kulturellen Bildungssystem profitiert zu haben. Ich bin Autodidakt und habe anderen Musikern – sowohl aus der Vergangenheit als auch der Gegenwart – auf die Finger geschaut.

Viele Bands ungeachtet des Genres, aus dem sie stammen, haben einen Hang zum Meer. Was ist aus künstlerischer Sicht so faszinierend daran?

Ivan: Dreiviertel der Erdoberfläche ist mit Wasser bedeckt, etwa Dreifünftel unserer Körper besteht daraus … Vermutlich besteht zwischen uns und dem Ozean eine engere Verbindung, als wir ahnen.
Arkady: Wasser ist für mich eine Emotion, der ich über die Musik Ausdruck verleihen möchte.

Äh, ja … Erzählt zum Schluss mal etwas über ZonderZond.

Arkady: Dmitri ist ein international renommierter Buch-Layouter und Grafiker, ein Künstler im wahrsten Sinn des Wortes. Wir sind stolz darauf, dass er mit uns arbeitet, und ich wünsche ihm viel, viel mehr Zeit, damit er den unermesslichen Kosmos von Bildern, die in seinem Kopf herumspuken, bewältigen und visuell umsetzen kann. Wir vertrauen seinen Einschätzungen vollkommen und hoffen, dass er uns auch in Zukunft die Stange hält.

Damit habt ihr alle Fragen beantwortet. Vielen Dank!

Wir danken dir!

Andreas Schiffmann (Info)
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