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The Rolling Stones: Hackney Diamonds (Review)

Artist:

The Rolling Stones

The Rolling Stones: Hackney Diamonds
Album:

Hackney Diamonds

Medium: CD/LP/Download/CD+Blu-ray/Deluxe/Limitiert
Stil:

Rock

Label: Polydor
Spieldauer: 48:28
Erschienen: 20.10.2023
Website: [Link]

„Er singt besser als jemals zuvor“, sagt Ron Wood über Mick Jagger in der
kurzweiligen Gesprächscollage, die CBS Sunday Morning vor rund einer Woche auf YouTube gestellt hat. Der Hochgelobte selber wiederum wirkt in sämtlichen Interviews dermaßen gelassen und höflich aufgeräumt wie jemand, der sich nicht mehr in der Aufregung eines Weltrekordlebens im 61. Jahr Rock’n’Roll verliert, sondern eine tiefere Form von Frieden gefunden hat. Diese Stimmung strahlt auf das gesamte Album aus, so verschieden die elf neuen Songs musikalisch auch klingen. Der Titel meint als britischer Slangausdruck zerbrochenes Fensterglas in den Gassen des Kiezviertels, das Artwork glitzert kantig. Zur emotionalen Anmutung der Musik hätte ein Weg entlang ferner Waldstücke besser gepasst, im Van-Gogh-Stil gemalt, leicht abstrahiert und knorrig, die Farben aufgewühlt und eben doch wie die Ruhe nach einem langen Sturm.

„Depending On You“, „Whole Wide World“ und „Driving Me Too Hard“ sind drei Deep Cuts der Platte, die einen mit dem Fahrrad durch die Landschaft treiben, begleitet von jener melancholischen Euphorie, die auch dem Power Pop zu eigen ist oder dem College Rock der Mitneunziger, gespielt mit der breiten Wucht heutiger Foo Fighters. Sehr countryesk wie lichtdurchflutet und doch von den Schatten des Lebens wissend, ein wenig schwelgend, aber ohne jeden Pathos, stimmlich wechselnd zwischen britischem Straßenrotz und melodischer Klarheit. Eine Kreuzung aus Gin Blossoms und Oasis, Collective Soul und Iggy Pop, was auch hervorragend zum Produzenten Andrew Watt passt, der letztgenannte Punk-Ikone ebenso geschliffen hat wie Miley Cyrus. Unter den Roadtrip-Nummern an der Pedale sticht textlich vor allem das Storytelling von „Depending On You“ hervor, in dem Jagger von den Jahren erzählt, die man an einen Menschen verlieren kann, der die Hoffnungen dann doch nicht erfüllt. Frei nach dem Motto: „Drum prüfe, wer sich überhaupt bindet.“

Den Produzenten hat Mick Jagger niemand geringeres als Paul McCartney empfohlen. Gemeinsam mit dem Ex-Beatle am Bass verwandeln sich die Stones auf „Bite My Head Off“ für dreieinhalb Minuten im Grunde in die Sex Pistols. Für die Außenwelt erzählt eine solche Kollaboration die große Geschichte überhaupt, doch letztlich folgt das Musikgeschäft ähnlich der Politik meist der Logik des Wrestlings. Derbe Rivalitäten im Ring, gemeinsames Drehbuch in der Kabine, Win-Win für alle Beteiligten und gut gefüllte Kassen. Am Horizont des diesjährigen deutschen Herbsts kündigt sich schließlich auch die nächste große Koalition aus vermeintlichen Widersachern an, die sich heldenhaft zusammenraufen wollen, wobei der Vergleich von Scholz und Merz mit McCartney und Jagger sich freilich verbietet. Irgendwo hat man ja Anstand. Der im August 2021 verstorbene Charlie Watts trommelt noch unverkennbar auf zwei Stücken. Elton John haut ebenfalls auf zweien in die Tasten, wobei sein Honky-Tonk-Spiel auf „Live by the Sword“ stärker auffällt; passend zu den Lyrics erwartet man jeden Augenblick, dass um ihn herum eine Saloon-Schlägerei ausbricht. Verletzlich und rührend hingegen die wirklich karge, nahezu Johnny-Cash-artige Melancholie des von Keith Richards gesungenen „Tell Me Straight“, das als vorvorletztes Stück in perfekter Dramaturgie das Finale einleitet, sich umsieht und fragt: „Is my future all in the past?“

Denn spätestens hier geschieht nun etwas, das so klar wenigstens noch keiner der Rezensenten erwähnt hat, die alle mit ihren Texten und Videos bereits schneller waren, während die Stones selber sich achtzehn Jahre Zeit für das neue Material ließen – es ertönt ein Schwanengesang. Auf „Tell Me Straight“ folgt mit „Sweet Sounds Of Heaven“ ein Gospel, ein über sieben Minuten langes sich Strecken in Richtung eben dieses Himmels, begleitet von Stevie Wonder an der gefühlten Kirchenorgel und Lady Gaga mit einer emotional überwältigenden Gesangsleistung, die Mick Jagger auch in jene Sphären treibt, die Ron Woods im Interview gemeint haben muss, als er sagte, sein Bandleader habe nie besser gesungen. Die Legende besagt, der Song sei zu Mick Jagger gekommen, als er tatsächlich einfach nur friedlich am Fenster saß und der Gesang der Vögel hineindrang. Ein Bild wie die Ankunft am Ende, der Feldweg statt der Glasscherbensplitter, der Waldgang, der ewige Friede, die Ruhe nach mehr als sechs Jahrzehnten Sturm. Danach, man kann es nicht besser erfinden, endet alles mit einem schlichten Cover von Muddy Waters‘ „Rolling Stone Blues“, also dem Song, mit dem alles begann, auf dem die Benennung der Band beruht, gespielt nur von Jagger und Richards, den ewigen Freunden, den ewigen Streithähnen, der Schicksalsgemeinschaft. Der Kreis ist geschlossen.

FAZIT: Wer das Ende von „Hackney Diamonds“ erreicht und mit den Rolling Stones zurück über die Schulter schaut, bekommt den Eindruck, dass die ganze Platte das perfekte Lebewohl darstellt. Noch einmal spielen sie jeden Stil, der sie ausgemacht hat, vom „Start Me Up“-artigen Einstiegskracher „Angry“ über Geschichten aus Blues, Country, Proto-Punk und melancholischem Straßenrock, bis hin zu den Himmelschören. Nicht jedes Stück glänzt dabei wie das Finale, aber kein einziger Song wirkt schwächlich oder verzichtbar. In die besten zwölf von, je nach Rechnung, vier- oder sechsundzwanzig Alben, dringt diese Platte daher locker vor. Sie wäre das perfekte Ende… doch Jagger hat bereits einen Nachfolger anklingen lassen.

Oliver Uschmann - Freier Mitarbeiter (Info) (Review 5690x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 14 von 15 Punkten [?]
14 Punkte
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Tracklist:
  • Angry
  • Get Close
  • Depending On You
  • Bite My Head Off
  • Whole Wide World
  • Dreamy Skies
  • Mess It Up
  • Live By The Sword
  • Driving Me Too Hard
  • Tell Me Straight
  • Sweet Sounds Of Heaven
  • Rolling Stone Blues

Besetzung:

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  • keine Interviews
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