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The Smile: Wall Of Eyes (Review)

Artist:

The Smile

The Smile: Wall Of Eyes
Album:

Wall Of Eyes

Medium: CD/LP/Download
Stil:

Indie-Rock, Artpop, Jazz, Progrock, Afrobeat, Post-Rock, Electro, Krautrock

Label: XL Recordings
Spieldauer: 45:16
Erschienen: 26.01.2024
Website: [Link]

Ähnlich wie die andere große Galionsfigur des britischen 90er-Jahre-Pop, Damon Albarn, lässt sich Thom Yorke schon lange nicht mehr auf eine Stilrichtung oder eine Band festlegen. Während sich der Blur-Gründer zusätzlich in Projekten wie Gorillaz, The Good, The Bad & The Queen, Rocket Juice & The Moon oder solo austobt(e), war auch der Radiohead-Frontmann stets auf dem Weg zu neuen Ufern. Für Fans seiner kultisch verehrten Oxforder Artrock-Truppe war dieser Entdeckergeist Fluch und Segen zugleich. Denn je mehr Erfolg, Zuspruch und Spaß Yorke mit einer Zweitband oder als Solist fand, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit eines (bisher nie offiziell vollzogenen) Radiohead-Splits.

Das zweite Album von THE SMILE innerhalb von gerade mal 20 Monaten dürfte nun freilich - um ein wenig zu spoilern – diese Gefahr erhöhen. Denn "Wall Of Eyes" ist einfach viel zu gut, um nur ein Nebenprojekt zu bleiben, bei dem Yorke schon bald wieder das Licht ausknipst. Für sein Lächeln wird der immer ernst blickende 55-Jährige - dem Bandnamen zum Trotz - zwar auch zukünftig nicht berühmt werden. Aber dass diese acht Songs zum Besten gehören, was 2024 popmusikalisch auf den Tisch kommt, dürfte jetzt schon klar sein. Radiohead-Aficionados, die seit (dem Schwanengesang-Album?) "A Moon Shaped Pool" (2016) an einer Zukunft für ihre Lieblingsband zweifeln, haben also jetzt zwei Optionen: Entweder der großen Zeit des genialen Quintetts mit bahnbrechenden Alben wie „OK Computer“ oder „Kid A“ hinterhertrauern - oder sich halt auf spannende neue Entwicklungen einlassen.

Nach und neben überzeugenden Solo-Werken und Soundtrack-Arbeiten von Yorke, Jonny Greenwood, Ed O'Brien und Philip Selway hatte sich das Trio-Projekt der beiden erstgenannten und zweifellos begabtesten Radiohead-Herren 2022 in den Fokus geschoben: THE SMILE, mit dem hochversierten Londoner Jazz-Drummer Tom Skinner (Sons Of Kemet) als Spezialist für vertrackte Rhythmen und coole Beats. Würden diese drei Topmusiker den Radiohead-Katalog ergänzen, sogar sinnvoll erweitern - oder doch nur eine Fußnote bleiben?

Wenn man jetzt "Wall Of Eyes" - eines der mit größter Spannung erwarteten Alben dieses Jahres - endlich zu hören kriegt, bleibt nur ein Urteil: Der Sänger/Pianist Yorke, der Multiinstrumentalist/Arrangeur Greenwood und der Schlagzeuger Skinner "match Radiohead for challenges, surprises and beauty", wie der bekannte Rockmusik-Autor Wyndham Wallace im UK-Magazin "Uncut" (Februar 2024) schreibt. Völlig richtig: THE SMILE haben "in punkto Herausforderungen, Überraschungen und Schönheit" ihrer Musik alle Erwartungen übertroffen. Der Band (ja, jetzt ist es wirklich eine!) gelingt eine Platte, wie man sie selbst nach dem auch schon starken Debüt "A Light For Attracting Attention" (2022) nicht erhoffen konnte.

Die Vorboten ließen bereits Großes erwarten: "Bending Hectic", ein achtminütiges Progrock-Monster mit zunächst zirpenden Gitarren, mächtigen Bässen, Yorkes waidwunden Vocals, Greenwoods erhebendem Streicher-Arrangement - und einem unfassbaren Metal-Doom-Finish; das Titelstück "Wall Of Eyes" mit einem sanft wiegendem, trügerischen Bossa-Nova-Geflecht und bedrohlichen Untertönen; "Friend Of A Friend", geprägt von flehendem Falsett-Gesang, wunderschönen Piano-Sounds und nervös-jazzigem Getrommel, ehe wieder die prachtvollen Strings des London Contemporary Orchestra den Hörer überwältigen. Doch damit haben THE SMILE ihr Pulver für den Longplayer zum Glück noch längst nicht verschossen.

"Teleharmonic", Track 2 unmittelbar nach dem Opener/Titelstück, brilliert mit wiederum jazzigen Klängen von Bass und Drums, Yorkes träumerischer Stimme und folkig-zarten Flötentönen. Eine Oase der pastoralen Ruhe in einem ansonsten durchaus fordernden, auch mal unruhigen und stets experimentierfreudigen Album, das seine volle Wirkkraft womöglich erst nach mehreren Durchläufen entfaltet. "Read The Room" macht's dem Hörer weniger gemütlich mit dengelnden Gitarren, munter wechselnden Rhythmen und unaufdringlichen Prog-Tendenzen. "Under Our Pillows" ist ähnlich unberechenbar und unbehaglich. Yorke singt so tief, wie er es eben auch hervorragend kann. Der von THE SMILE ohnehin gepflegte Afrobeat ist hier nicht fern, nach drei Minuten kommt Krautrock hinzu. Am Ende wieder Streicher und Noise-Schleifen. Ein echter Brocken von Song.

Etwas Ruhe kehrt mit "I Quit" ein, das mit seiner verspielten Bass-Linie ebensogut auf einem der späteren elektronisch geprägten Radiohead-Alben wie "In Rainbows" (2007) oder "The King Of Limbs" (2011) einen Ehrenplatz hätte finden können. (Wie überhaupt die um viele reizvolle Details erweiterten Parallelen von THE SMILE zur bisherigen Hauptband der beiden Protagonisten immer auffälliger werden.) Was der Filmmusiker Greenwood hier - ähnlich wie in seinen Scores zu "There will be Blood" oder "The Power of the Dog" - an Feinstarbeit aus dem Orchester herauskitzelt, ist bewundernswert und erschütternd zugleich.

Nach dem Streicher- und Heavy-Gitarren-Crescendo von "Bending Hectic" (einem der sensationellsten musikalischen Gänsehaut-Momente seit langem) findet das Album mit "You Know Me" ein halbwegs versöhnliches Ende - obwohl auch hier etwas Verstörendes hinter den zitternden Vocals und der fragilen Klavier-Melodie lauert. Yorke/Greenwood/Skinner haben "Wall Of Eyes" mit drei brillanten Singles ohne großes Bohei und ohne viele erhellende Interviews angeteasert - und dann einfach weiter "geliefert". So selbstbewusst-lässig kann man das auch in einer so überhitzten wie unsicheren Zeit für die Musikbranche machen.

Ob allerdings Radiohead irgendwann zurückkehren (wie von Drummer Selway kürzlich in einem Interview angedeutet), steht nach dem künstlerisch extrem eindrucksvollen Zweitwerk von THE SMILE wohl erst recht in den Sternen. Warum denn auch, könnten sich die drei britischen Klang-Abenteurer mit Recht fragen. Sie haben sich für "Wall Of Eyes" schließlich schon von Dauerproduzent Nigel Godrich verabschiedet und diesen Job Sam Petts-Davies übertragen. Das zunächst ganz locker und unverbindlich  gestartete Nebenprojekt THE SMILE scheint die Gegenwart und die Zukunft zu sein. So weh das auch manchen weniger flexiblen Radiohead-Fans tun mag.

FAZIT: Kaum ein Album dieses Jahres wurde mit solcher Spannung erwartet wie das zweite von THE SMILE. Die Frage, ob Sänger Thom Yorke und Multiinstrumentalist Jonny Greenwood unter Mithilfe des Super-Drummers Tom Skinner nun endgültig aus dem Radiohead-Schatten heraustreten, wird mit "Wall Of Eyes" klar beantwortet: Dies ist mehr als nur eine kleine Zweitband oder ein zusätzliches musikalisches Hobby - hier wächst auf den Grundlagen der bahnbrechenden Musik von "OK Computer" (1997) bis "A Moon Shaped Pool" (2016) etwas Neues und ebenfalls ganz Großartiges heran. Artpop, Neo-Prog, Frickel-Jazz und Krautrock at its very best!

Werner Herpell (Info) (Review 2416x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 14 von 15 Punkten [?]
14 Punkte
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Tracklist:
  • Wall Of Eyes
  • Teleharmonic
  • Read The Room
  • Under Our Pillows
  • Friend Of A Friend
  • I Quit
  • Bending Hectic
  • You Know Me

Besetzung:

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