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Interview mit Deflore (06.07.2010)

Deflore
Die Römer DEFLORE vertreten die wohlig warme Ausnahme von der Regel zwingend emotional abstoßender Industrial-Musik, welcher weite Teile der Szene nach wie vor Folge zu leisten scheint. “2 Degrees of Separation” deutet als dritte Veröffentlichung im Katalog des Duos an, wie bühnentauglich technoide Musik sein kann: kein anonymes Abhotten im stillen Kämmerlein, kein epilleptisches Zappeln zu Stroboskopblitzen.

 “Wir lieben es wirklich sehr, live aufzutreten. Außerdem bekommt man auf diesem Weg den besten Eindruck von DEFLORE. Es ist eine Mischung aus Electro-Set und einem typischen Rock- oder Metal-Gig, weil wir schlicht Industrial mit menschlicher Note spielen. In showtechnischer Hinsicht fahren wir Videoinstallationen auf, um die Leute tiefer in unsere Welt zu ziehen. Subbässe, Noise und abstrakte Bilder machen unsere Konzerte aus.” Das behauptet Christo, die eine Hälfte des Projekts. Er und sein Partner Emilionero haben die Vorarbeit der Pioniere auf ihrem Gebiet verinnerlicht und für ein Metal-Publikum aufbereitet – auch weil man Idole bisweilen zerschlagen, Neubauten entsprechend einstürzen lassen darf, wenn diese marode wirken: “Ich will das nicht weiter ausführen, aber leider haben wir im Vorprogramm von Alexander Hacke nur gelernt, dass die Helden der eigenen Jugend in Wirklichkeit nicht so cool sind, wie man es sich häufig vorstellt.”

Da DEFLORE weitgehend ohne menschliche Stimme auskommen, hofft Christo, eine universelle Sprache zu sprechen: “Wir denken, dass wir uns musikalisch über Ländergrenzen hinwegsetzen können. Außerdem gehören wir nicht zum Mainstream, weshalb die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Hörerkreisen – europaweit im Vergleich zu den Staaten beispielsweise – sowieso verschwimmen. Wenn man mit offenem Herzen an unseren Sound herantritt, kann man ihm bestimmt etwas abgewinnen.” Dies gilt natürlich auch für die Künstler selbst: “Wir haben uns sehr viel Musik aus den Siebzigern angehört, als es bei uns im Land all diese großartigen Progressive-Rock-Bands gab; heute liegt Italien weitgehend brach, was die Kreativität betrifft. Goblin gehören wahrscheinlich zu unseren allerliebsten Vertretern aus jener Zeit. Deren Soundtracks zu Dario Argentos Filmen kennt ja auch fasst jeder, aber davon abgesehen haben die Jungs noch viel mehr außergewöhnliche Instrumentalmucke geschrieben. Was sie mit uns eint, ist wohl das Ziel, dem Hörer eine düster bedrohliche Atmosphäre zu vermitteln, die einem Horrorstreifen oder Thriller gerecht wird. Ich finde es im Zusammenhang mit der alten Garde auch gar nicht so ungewöhnlich, nach wie vor analoges Equipment zu verwenden. Die alten Synthesizer findet man heute im Vergleich zu vor zehn Jahren ziemlich leicht, vor allem übers Internet. Hinzu kommt, dass viele Hersteller die Produktion wieder aufgenommen haben. Wir benutzen das Zeug in erster Linie wegen des wärmeren Sounds; es klingt einfach vollmundiger als digitale Geräte. Einen guten Sound bekommt man ohnehin nicht hin, wenn man sich auf Nullen und Einsen verlässt; es geht um Gefühle, und damit meine ich auch die Haptik, denn Analoginstrumente machen greifbar, was man mit ihnen erschafft”.

Wie im Review angedeutet lassen die einzelnen Lieder viele Assoziationen zu, die nicht einmal im Falle der konkret auf ihre Quellen zurückführbaren Samples verbindlich sein müssen: “Was wir der Dokumentation ‘Grass’ entnommen haben, ist eigentlich ein Werbespot aus den Fünfzigern, der sich gegen Rauschmittel und speziell Marijuana ausspricht. Der Ausszug eignete sich unserem Empfinden nach perfekt zur Einleitung des Albums, weshalb wir ihn an den Anfang von ‘La Guerra Degli Orsi” stellten. Der Titel widerum bedeutet ‘Krieg der Bären’ und bezieht sich als Wortspiel auf die später auftauchende Passage aus dem Radiohörspiel zu ‘Krieg der Welten’. Der Sprecher damals war ja Orson Welles – ‘Orsi’ also.” Der Humor des Paares erschließt sich mit seiner desolaten Musik im Ohr nicht unbedingt, klingt jedoch immer wieder an, wie Christo am Beispiel von “Morbo 32” erläutert: “Ach, das ist ein fiktiver Titel; so könnte doch irgendein Endzeit-Movie heißen, nicht wahr? Der Name beschreibt unser Version eines Killervirus, das die Menschheit auslöscht. Der Text stammt von unserer Freundin Mel, einem amerikanischen Fan. Wir schickten ihr die Musik und ließen sie einfach interpretieren, was die Atmosphäre für sie hergab. Die Worten passen perfekt: eine karge Welt, in der das Wasser knapp geworden ist. Generell wollen wir niemandem unsere Meinung aufzwingen, sondern nur darstellen, wie wir die Dinge um uns herum betrachten. Da wir scheuklappenfrei komponieren, kann man sich dem Ergebnis auch von vielen Seiten nähern, zumal wir es wichtig finden, dass die Tracks vielschichtig klingen. ‘Electropause’ zum Beispiel: wir lieben es, mit all den Filtern und Delays im Studio zu experimentieren. Es handelt sich keinesfalls um ein lärmiges Zwischenspiel, sondern eine Liveimprovisation.”

So einfach lassen wir den guten Herrn jedoch nicht davonkommen – wie sieht denn Deflores Sicht der Dinge nun genau aus? “Menschen sind dumm, selbstzerstörerisch und wirklich böse. Was wir heute um uns herum erleben, haben wir uns über Jahrhunderte hinweg selbst eingebrockt. Das kann man nicht außer Acht lassen, indem man über Blümchen und Liebe singt. Andererseits glaube ich, dass noch nicht aller Tage Abend ist, weil allmählich ein Umdenken einsetzt. Hier und dort versuchen ein paar Leute, die Ignoranz zu überwinden und etwas zu bewegen. So möchten wir der Menschheit eine Chance geben, auch wenn wir wohl bis zuletzt zweifeln werden. Wir lassen und beim Schreiben übrigens von unseren Träumen inspirieren, und die bestehen oft aus flüssigem Metall und anderen sonderbaren Stoffen.”

 Nach zehnjähriger Bandgeschichte meint Christo, sich ein Urteil über Fans extremer Musik bilden zu können: “Ich bin davon überzeugt, dass dieser Hörerkreis aus innigen Musikliebhabern besteht, denen vor allem die Gefühle wichtig sind, die ihre Lieblingsbands ihnen vermitteln. Sie suchen geradezu nach der intensiven emotionalen Erfahrung, und ob sie ihren Kick nun durch Grindcore, Metal, Hardcore oder elektronische Musik bekommen, ist nebensächlich. Wir glauben auch, dass der vorherrschende Musikgeschmack gewissermaßen die Stimmung der Gesellschaft widerspiegelt. Im Augenblich erleben wir nicht eben rosige Zeiten, und dementsprechend fallen die Präferenzen zugunsten melancholischer oder dunkler, gewalttätiger Musik aus. Was uns betrifft, so möchten wir das Widerspiel zwischen Mensch und Maschine beschreiben, was sich auch im Artwork von ‘2 Degrees of Separation’ ausdrückt: statt eines Herzens siehst du ein Zahnrad als Antriebsquelle des Organismus. Man ist ja selbst auch nicht immun gegen alles Technische. Als Musiker halten wir uns über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden und sind regelrecht versessen darauf, das perfekte Equipment zu finden.”

 “Industrial Glamour” entspricht als Titel folglich der Essenz von DEFLORE: “Den Track kann man als Blaupause für unseren Sound bezeichnen – über neun Minuten, in denen alles gesagt wird, was wir an den Mann bringen wollen.” Für die nahe Zukunft bedeutet dies einen Vinylrelease und weiterhin Festhalten am eigenen Traum: “David Lynchs Meisterwerk ‘Eraserhead’ vertonen und mit dem Soundtrack in Kinos auftreten … Falls das nicht klappt, ist zumindest eines sicher: wir spielen weiterhin live, und zwar laut!”
Andreas Schiffmann (Info)
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