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Interview mit Vitruvian Man (13.07.2012)

Vitruvian Man

Der Einstand von Australiens VITRUVIAN MAN ist zwar bereits zur Jahreswende erschienen, hierzulande aber gänzlich unbekannt. Nach der Einfuhr des Albums steht zudem fest: Daran muss sich schleunigst etwas ändern, weshalb wir die originellen Prog Rocker zum Interview heranzogen … und hinterher mit Bezug auf die Sujets der Songs genauso schlau sind wie vor der Befragung.

Naheliegender Einstieg: Euer Land fördert von jeher originelle Bands zutage; warum klingen VITRUVIAN MAN genau so und nicht anders, als man es auf „The Stranger Within“ hört?

Wir sind in den vergangenen Jahren in Melbourne und naheliegenden Städten auf dem Kontinent aufgetreten, wobei wir uns mit Bands mit sehr unterschiedlichen Stilen auseinandersetzen mussten. Andererseits herrscht bereits unter uns ein gewisser Eklektizismus, denn unser Drummer Greg etwa ist zugleich Sänger und Gitarrist der Punkband Fire Fight, wohingegen Dan mit Low Rent Alternative Country spielt. All diese Einflüsse kommen dann ebenfalls in unserem Sound zum Tragen, und ich finde, die Musik wird davon bestimmt nicht schlechter. Was Melbourne betrifft, herrscht auch hier Vielfalt, wobei Rock, Punk und Metal deutlich überwiegen.

Die Black Metaller Ne Obliviscaris wurden von der Regierung finanziell unterstützt, als sie ihr Debütalbum produzierten. Das wäre hierzulande nahezu undenkbar.

Wir kennen die Mitglieder und werden auch von Tims (Tim Charles, Geiger und Sänger der Combo – Anm.) Veranstaltungsfirma Welkin Entertainment betreut. Staatliche Subventionen im Rahmen eines Kunstprogramms stellen in Australien tatsächlich einen wirtschaftlichen Anreiz dar. Nicht wenigen heimischen Musikern ist es dadurch erst gelungen, ihre Musik international vorzustellen. Eine solche Initiative von Seiten der Obrigkeit halten wir für ausgezeichnet, und auch VITRUVIAN MAN haben vor, sich zu bewerben, um auch außerhalb des Landes auf Tournee zu gehen, damit mehr Leute uns kennenlernen.

Eurem Debüt liegt ein Konzept zugrunde, das sich nicht ohne weiteres erschließt. Gleichzeitig befremdet die Tatsache, dass man so gut wie nichts in Kritiken oder Interviews mit euch darüber liest. Die Texte müssten doch Fragen aufwerfen, tun es aber offensichtlich bei niemandem. Frustriert euch das?

Du hast Recht. Kaum ein Review spricht den thematischen Rahmen an. So etwas kann in der Tat ernüchtern, da der Inhalt ins Hintertreffen gerät, obwohl die Musik noch viel besser wirkt, wenn man begreift, was sie im Zusammenhang mit den Texten auszudrücken sucht. Auf der Scheibe geht es um die eine Sache, vor der wir uns alle flüchten – unsere dunkle Seite, unsere Gewalttätigkeit: die Condition humaine.

Alle Lieder fußen darauf, und zwar vom Fluchtpunkt der Gegenwart aus betrachtet und zumeist auch reflektierend. Wir versetzen uns mit jedem Stück in einen anderen Menschen, beschreiben dessen Denken und Handeln. Obgleich keiner mit dem anderen zu tun hat, eint sie sowohl die Erfahrung, die sie durchmachen, als auch die Entscheidungen, die sie fällen. Ausgesucht haben wir erfundene wie reale Charaktere, derweil Andeutungen in den Texten Hinweise darauf geben, um wen es sich handelt. Kurz gesagt widmet sich dieses Album unserer Geisteskrankheit.

Im Opener sprecht ihr ein „living work of art“ und „a distance that has colored me the same“ an Dabei denke ich an Identitätsverlust im Zuge einer Art von Körperkult, der vielleicht technischer Natur sein könnte, aber so richtig überzeugt bin ich davon nicht …

Hier dreht es sich um Lektionen, die uns das Leben lehrt, so auch den Protagonisten der Story. Soll er im Zwischenmenschlichen tiefer schürfen, fehlt ihm die Fähigkeit zum Mitfühlen. Er glaubt, sich von der Gesellschaft abzuschotten, und beruft sich aufs Schreiben, um herauszufinden, wer er einmal war, und jenes Ich mit dem jetzigen zu vergleichen. Empathie ist etwas, nachdem er sich sehnt, und stellt ihn zugleich vor ein Rätsel. Im Gegensatz zu den folgenden Stücken klammert sich dieser Mensch noch an eine Hoffnung.

Wer sind der weibliche Charakter und der Vater in „Nightmare In Her Hand“?

Hier wagen wir uns auf übernatürliches Terrain, wie das Cover der Scheibe bereits andeutet. Das Stück ist aus der Perspektive einer Seele geschrieben, die vorübergehend in einem fremden Körper steckt. Der Bezug auf „she“ oder „her“ fungiert als Schlüsselverbindung zur Hauptfigur. Mehr als dass die Story auf einer sehr bekannten TV-Serie aus den Achtzigern basiert, geben wir nicht preis.

Die „evening battles“ und die Zeile „no-one picks the newest things“ stachen für mich in „As It Falls“ heraus, aber ich habe keinen Schimmer, was sie bedeuten.

Das Lied behandelt den Augenblick des Nachdenkens übers Leben im Angesicht des Todes. Der Blickwinkel verschiebt sich abwechselnd von zu Recht angeklagten Gefangenen zu demjenigen, der sie in ihrer Gewalt hat. Die „evening battles“ verweisen auf eine große, aber bewältigte Herausforderung, während „no one picks the newest things“ daran erinnert, wie geschickt der Protagonist diese Schuldigen nicht nur festgenommen hat, sondern nun auch verhört. Er fragt sie nach ihrer Identität und sucht einen Grund dafür, sie zu verschonen, findet jedoch keinen.

In „Leave This All Behind“ hört man eine Schreibmaschine, ein Klavier und einen Hund. Abgesehen davon, dass letzterer auf den folgenden Song hindeutet, dämmert mir nichts.

Damit liegst du aber zumindest nicht falsch. Der Hund treibt die Handlung in „Every Dog Will Have Its Day“ voran. Der Mensch, den wir beschreiben, hält sich für besonders intelligent, was wir mit dem Ausdruck „over-complicated“ anklingen lassen. Sein Umfeld hat ihn aber verstoßen, weshalb er furchtbar verzweifelt und zornig wird, also hält er es für angebracht, zurückzuschlagen. Es ist, als zwinge ihn etwas dazu, und gleicht einem regelrechten Kampf, der in seinem Inneren stattfindet. Dass er sich losgelöst von sich selbst fühlt, drücken die Formulierungen „my devil“ sowie „left to obey things in my mind“ aus. Dieser Kerl untersteht einem fremden Einfluss und sieht keinen Ausweg mehr. Dabei wächst seine Abhängigkeit, je länger er dieser Macht untersteht.

Your Lucky Day“ kündet von einer schuldbewussten Seele, die plötzlich aufbegehrt. Woher die Wut?

Der Titel verweist wörtlich auf ein Sprichwort, dessen sich der Protagonist gern behilft. Wir zeichnen den inneren Monolog eines Mannes nach, der seine früheren Fehler vergessen möchte, ehe er begreift, dass sie einen Teil seiner Persönlichkeit ausmachen. Er gibt seiner Wut nach und nimmt hin, dass sie zunimmt, bis es kein Halten mehr gibt. Dabei stachelt er sich mithilfe von Erinnerungen auf. Diese Geschichte beruht auf einem wahren Hintergrund.

In „The Implements Of Hell“ entsteht für mich der Eindruck, es handle sich beim Sprecher um einen religiösen Eiferer, der sich selbst zum Helden stilisiert.

Fast korrekt. Jedenfalls dient er einer höheren Instanz, von der er glaubt, sie träfe seine Entscheidungen. Er hadert bei dem, was ihm aufgetragen wurde, extrem mit sich selbst, was Zeilen wie „running my hands through her blonde hair, the screams are ours to share“ verdeutlichen. Zum Ende des Stückes hin fühlt er sich eindeutig schuldig und bereut sein Tun. Er sieht ein, dass ihn sein vermeintlicher Retter verlassen hat, weshalb er fortan auf sich allein gestellt ist. Das Mantra „God told me to kill you“ rechtfertigt seine Entscheidungen dahingehend, dass er die Verantwortung von sich weist, von wegen er habe die Kontrolle verloren. Dabei verachtet er den Gott, der ihn zu entsetzlichem Handeln zwang.

Harter Tobak, aber da das jetzt alles recht vage klang, muss die Scheibe wohl noch öfter laufen, bis sie klickt. Was tut ihr in der Zwischenzeit?

VITRUVIAN MAN komponieren gerade neues Material und bemühen sich, ihren Songs weiter Gehör zu verschaffen. Wir stehen völlig unabhängig da und produzieren auch selbst, also müssen wir aufs Geld achten. Vielen Dank dafür, dass du so weit ins Detail gegangen bist. Checkt uns, falls ihr Interesse bekommen habt.

Andreas Schiffmann (Info)
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