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Myrath - Köln, Underground - 27.09.2016

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Als ich mich vor einigen Jahren mit Kobi Farhi von Orphaned Land über die Auswahl der Bands für den von ihm zusammengestellten "Oriental Metal" Sampler unterhielt, erklärte mir der israelische Sänger, dass er sich unabhängig vom Stil der Band die Frage stelle: "Glaube ich der Band? Nehme ich den Musikern ihre Darstellung und ihre Worte ab?"

Das war offensichtlich der Fall bei der tunesischen Band MYRATH, welche die abwechslungsreiche Song-Auswahl mit ihrer epischen Hymne "Merciless Times" bereicherte, und von der ich in diesem Zusammenhang zum ersten Mal hörte. Vom orientalischen Flair und der leidenschaftlichen Darbietung fasziniert, bestellte ich mir das Album "Tales Of The Sands" und kam aus dem Staunen nicht so ohne Weiteres heraus: Das Quintett lieferte nicht nur eine astreine Performance ab, sondern die Musik griff morgenländische Motive so elegant auf, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre. Das klang ganz und gar nicht so, als ob der "Oriental Metal" noch in den Kinderschuhen steckte, und bereits das phantastische Cover-Artwork entpuppte sich als ein wahrer Hingucker, der in Gestaltung und Farbe ganz eigene Akzente im weiten Rund des globalen Metal setzt.

Zugegeben, MYRATH laufen bei mir seit dieser Entdeckung weder Amorphis ihren Rang ab, noch hätte ich mich bislang als ausgesprochenen Fan bezeichnet. Doch irgendwie hatte das Quintett mehr als nur mein Interesse geweckt, und so entschied ich mich (trotz einem zeitgleichen Spiel der Schwatzgelben gegen Real Madrid in der Champions League), einem der Konzerte im spätsommerlichen Herbst beizuwohnen, welche die Tunesier nach Deutschland führte. Zwar befürchtete ich, dass es ein kitschiges Spektakel werden könnte, welches mich ästhetisch und klanglich überfordert, doch das Wagnis war es mir wert – wann spielt schon eine tunesische Metal-Band in unseren Breitengraden?
Das Publikum, das sich an jenem Mittwochabend im Kölner "Underground" einfindet, ist zwar in punkto Alter und Erscheinungsbild einigermaßen bunt zusammengewürfelt, martialisch oder schwermetallisch schaut hier allerdings niemand aus. Optisch regiert vielmehr die Harmlosigkeit von Musikliebhabern, die ganz sicher keinen Streit suchen. Ob Götz Kühnemund auf solche Menschen abzielte, als er über die von ihm so bezeichneten "Metal-Hobbits" schrieb? Dass – dennoch?! – leidenschaftliche Fans am Start sind, wird gleich zu Beginn des Konzerts deutlich, als ein Mann im Tunesien-Shirt vor mir wie ein Gummi-Ball begeistert auf- und abhüpft und vor der Bühne eine Tunesien-Flagge geschwenkt wird.
Die Band freut sich über das freundliche Willkommen und überraschender Weise steht zunächst eine Bauchtänzerin im Mittelpunkt des Geschehens, d.h. die junge Dame bewegt sich auf bezaubernde Weise zum Intro aus tausend und einer Nacht – auch hier fällt die Reaktion des Publikums weit respektvoller aus als vor 20 Jahren bei Satyricon in der Zeche Carl als "Mother North" die Hüllen fallen ließ. MYRATH selbst können den eleganten Hüftschwung nicht gleich aufnehmen und brauchen eine gute Viertelstunde, um sich warmzuspielen. Dann allerdings wird deutlich, was das Quintett zu bieten hat: Ich habe keine Ahnung, wo die Musiker die Schulbänke des Melodic / Heavy / Prog Metal gedrückt haben, doch die Virtuosität, mit der die fünf Herren orientalische Melodien in ihrer epischen Musik zum Besten geben, ist enorm. Malek Ben Arbia brilliert an der siebensaitigen Gitarre und ihm allein könnte ich ein ganzes Konzert auf die Finger schauen, so flink ist er zuweilen auf dem Griffbrett unterwegs, und so unaufdringlich verknüpft er Faszinierendes wie Hartes aus Ost und West. Manches erinnert mich dabei an die jungen Dream Theater, nicht zuletzt die Unbekümmertheit, mit der quasi im Handumdrehen ganz große Melodielinien aus dem Hemdsärmel geschüttelt werden. Auch die Rhythmussektion mit Anis Jouini am Bass und Morgan Berthet am Schlagzeug braucht ein wenig, um den gemeinsamen Groove zu finden, dann allerdings nimmt die morgenländische Galeere Fahrt auf.
Zwischen zwei Liedern nimmt sich Sänger Zaher Zorgati die Zeit, um darauf hinzuweisen, dass MYRATH heute Abend zwar zum ersten Mal in Köln eine Bühne betreten, er jedoch schon zum fünften Mal in der Domstadt sei (in der offenbar ein Cousin von ihm lebt), und dass er Fan vom FC Köln sei. Möchte sich der Frontmann etwa beim Publikum einschleimen? Dieser Verdacht verfliegt spätestens, als der Tunesier im weiteren Verlauf des Abends kleine Kostproben auf Deutsch zum Besten gibt, die – der buckligen Verwandtschaft und ihren Lektionen sei Dank – viel Gelächter ernten. Als Zaher schließlich seine Liebe zur deutschen Sprache bekennt, wird bei allem Spaß deutlich: Der Musiker meint das ernst, ferner hat er hat etwas zu verkünden, und zwar in der Tradition von Dio und anderen Metal-Barden, die sich vor allem als Erzähler begreifen, die das Publikum mit ihren musikalischen Geschichten berühren und zumindest für die Länge eines Albums oder eines Konzerts in eine phantastische Welt entführen wollen. Politisches kommt dabei eher sublim zum Tragen (gleichwohl deutlich: "Get Your Freedom Back"), im Vordergrund stehen menschliche Beziehungen und Schicksale – und die ähneln sich wohl in aller Welt. Die Ermunterung in "Believer", sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, wird von Zaher jedenfalls so enthusiastisch gesungen, dass nicht nur ein Blick in die Gesichter vor der Bühne nahelegt, dass MYRATH in scheinbar doomigen Zeiten auf Happy Metal setzen. Den Spaß an der Freude treibt auch der hünenhafte Keyboarder Elyes Bouchoucha mit filigranem Spiel und starken Gesangseinsätzen an: "Endure The Silence" entpuppt sich ergo live als Hymne, die mir ohne den Prince-of-Persia-Kitsch des unglaublich aufwändig produzierten Videos noch besser gefällt.
Um etwaige Zweifel im Keim zu ersticken, sei angemerkt, dass es heute Abend bei aller Harmonie und positiven Ausstrahlung dennoch ordentlich kracht, denn Songs wie das flotte "Storm Of Lies" oder das thrashig angehauchte "The Needle" spielen härtetechnisch in der Liga von Morgana Lefay, und an satten Hooklines mangelt es MYRATH ohnehin nicht. Die Bauchtänzerin erscheint übrigens immer mal wieder auf und sogar vor der Bühne, und auch Zaher hüpft irgendwann von selbiger herunter und setzt sich mit den Fans auf den Hallenboden, wo er singt – der Typ hat heute Abend die gute Laune gepachtet. Zur Zugabe erscheint er im Trikot der Geißböcke und heimst mit seiner bodenständigen Verrücktheit weiter Sympathien ein. "Merciless Times" hat mich nun bereits ein paar Jahre begleitet und diese Hymne endlich live um die Ohren gewickelt zu bekommen, gehört zu den absolut erinnerungswürdigen Erlebnissen eines ohnehin bunten musikalischen Jahres. Nach rund anderthalb Stunden machen sich alte und neue Fans mehr als zufrieden auf den Heimweg. Nur wenige Tage später treten MYRATH in Japan vor einem ca. hundert Mal größeren Publikum auf.

Fazit: Nach einer Aufwärmphase auf beiden Seiten entwickelt sich das Konzert der Tunesier zu einer gemeinschaftlichen Feier, bei der sich – ja, das klingt kitschig hoch zehn – Orient und Okzident im Metal beispielhaft verbinden. Nach dieser inspirierenden Erfahrung freue ich mich nicht nur auf zukünftige Gastspiele von MYRATH, sondern würde am liebsten mit Zaher auf dem nächsten Bolzplatz eine Runde kicken gehen. Stattdessen erlebe ich in einer nahegelegenen Kneipe noch den späten Ausgleichstreffer meiner Borussen gegen die Spanier. Wie hatte Zaher kurz zuvor noch gesungen? "Believe and carry on" – wie wahr!

Thor Joakimsson (Info)

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