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Tocotronic: Das rote Album (Review)

Artist:

Tocotronic

Tocotronic: Das rote Album
Album:

Das rote Album

Medium: CD/LP/Buch/Download
Stil:

Erwachsen gewordener Indie-Rock mitten aus der Hamburger Schule

Label: Universal Music / Vertigo / Capitol
Spieldauer: 53:39
Erschienen: 01.05.2015
Website: [Link]

Manchmal ist das Leben auf seine immer wieder faszinierende Art und zugleich ungewöhnliche Weise gerecht. Man erwartet eben nichts und bekommt sehr viel, weil sich Andere Gedanken darüber machten, was einem, der beschenkt werden sollte, wirklich wichtig sein könnte, damit es ihm ein dankbares, stilles Lächeln statt eines laut gesprochenes: „Wow, super!“ und einen verborgenen Krawatten- oder Socken-Blick ins Gesicht zaubert!

TOCOTRONIC kann so ein völlig überraschendes Geschenk sein für einen leidenschaftlichen, eigentlich von der Hamburger Schule nicht sonderlich begeisterten, Musikliebhaber, zu dessen Aufgaben manchmal auch gehört, ein Feuer zu hüten, damit Andere mithilfe der Steine, die im Feuer zum Glühen gebracht werden, eine Schwitzhütte (so eine Art „heißsteinige“ Sauna im Zelt, basierend auf der Natur-Tradition aller Urvölker) genießen dürfen. Zuvor aber gehört zu den Traditionen auch, dass der Feuerhüter ein kleines Geschenk erhält, damit er bei so einer mehrere Stunden andauernden, viergängigen Schwitzhütten-Zeremonie für die idealen, hochgradigen Temperaturen innerhalb der Hütte sorgt. Wenn sich dann auch noch das in Holland „erfundene“ und sich deutschlandweit zurecht durchgesetzte Mindstyle-Magazin HAPPINEZ im Rahmen seines aktuellen Heft-Themas „Glück“ zu dieser Schwitzhütte anmeldet, um ausgiebig (am Ende neun Seiten lang) davon zu berichten, wird die Sache ganz besonders heiß. Doch nicht nur das. Die für die Zeitschrift Verantwortlichen ließen es sich nicht nehmen, dem musikalischen Feuerhüter zwei besondere Geschenke zu machen - eine CD der irischen Singer/Songwriterin SOAK mit dem wundervollen Titel und ebenso wundervoller Musik „Before We Forgot How To Dream“ (Bevor wir das Träumen verlernen) und eben das TOCOTRONIC-Album, das auf seinem Digi-Pack nichts weiter zu bieten hat als die Farbe rot und künstlich beigebrachte Abnutzungserscheinungen und Knicke, die dem LP-Leidenschaftler noch immer ein riesiger Graus sind, weswegen er seine Vinylschätzchen heutzutage in transparente Plastik-Schutzhüllen schiebt.

Doch bevor wir uns diesem kleinen Musik-Kunstwerk zuwenden, sollten wir unbedingt noch einen Blick auf die Phrasen-Dresch-Maschine aus dem Hause SPEX, die immer für einen Aufkleber auf dem neusten TOCOTRONIC-Album reicht, werfen. So durften wir uns beim Grübeln über unsere Kaufentscheidung zum 2007er Werk „Kapitulation“ mit den SPEX-Aufkleber-Worten: „Die beste Platte, die ihnen in ihrer vierzehnjährigen Bandgeschichte gelungen ist.“ beeinflussen lassen. Und getreu dem Motto: „Was einmal hilft, kann beim nächsten Mal mindestens genauso hilfreich sein!“, dürfen wir uns diesmal mit der SPEX-Aufkleber-Weisheit „Die bisher offenste und offensivste Pop-Platte der 22-jährigen Bandgeschichte“ zufrieden geben und die Geldbörse zücken.
„Liebes SPEX, gut kopiert ist halb betrogen! Das solltet ihr doch wissen und es bleibt nur zu hoffen, dass TOCOTRONIC bei solch musikalischer ‚Vertriebsamkeit‘ nicht zugestimmt hat, denn dies würde definitiv nicht zu dem hohen Anspruch passen, den die ‚intelligenteste Band Deutschlands‘ an sich, ihre Texte und ihre Musik stellt!“ Und mir schwant schon heute, was auf dem Sticker des nächsten Albums in SPEX-Sprech stehen wird.

Eigentlich müsste man TOCOTRONIC neben solchem Zitier-“Vergehen“ vorab zugleich unangemessenen Größenwahn unterstellen, wenn sie in Anlehnung an das „White Album“ der BEATLES nun mit ihrem „Roten Album“ aufwarten - doch in dieser Beziehung ist deutscher Musiker-Größenwahn nichts Neues, denn bereits der sich schwer überschätzende und mit seiner Teilnahme am und dem gerechtfertigten Ausscheiden beim Bundesvision Song Contest ins Abseits schießende OLLI SCHULZ, der leicht lispelnden, mitunter unerträglichen Sonntags-Quasselstrippe bei radio1, versuchte mit seinem „Beige(n) Album“ bereits Ähnliches. So jedenfalls machte er sich damals mit „Mach den Bibo“ zum peinlichen Liedermacher-Bimbo.

Würde uns mit dem „Roten TOCOTRONIC-Album“ ein ähnlich unangenehmes Erweckungserlebnis erwarten?
Um es kurz zu machen: Sollte es in Deutschland eine Band geben, die diesen Vergleich mit den BEATLES nicht zu einem unangenehmen Musik-Gemuffel werden lässt, dann ist es TOCOTRONIC, denn auf ihrem aktuellen Album verbindet das Hamburger Quartett wundervolle Poesie mit ebenso wundervollen Melodien, die genauso zärtlich die 80er Jahre streifen, in denen uns THE CURE mit ihrem schaurig-schönen „Lullaby“ in den Schlaf streichelten, sich aber auch nicht vor modernen Elektronikspielereien oder breit angelegten orchestralen Klängen fürchten.

Schon der eröffnende „Prolog“, der wie EROCs „Wolkenreise“ beginnt und sich mit den neuen deutschen Wellenklängen der anspruchsvollen Art aus dem „Viva“-Hause LA DÜSSELDORFs oder RHEINGOLDscher „Dreiklangdimensionen“ erhebt sowie einer überraschend auftauchenden E-Gitarre plus den gewohnt faszinierenden Texten DIRK VON LOWTZOWs vereinigt, lässt nicht nur aufhorchen, sondern weckt eine fast unbändige Neugier auf diese rote Platte, in deren CD-Ausgabe sich auch noch ein 32-seitiges Booklet mit allen Texten und den sich in den Betrachter bohrenden, schwarz-weißen „Augenblicken“ der einzelnen Musiker befindet!

Schon „Ich öffne mich“ verlässt dann umgehend das NDW-Territorium und kehrt in eins der schönsten Indie-Alternativ-Rock-Bauten, deren Baumeister sich unter MORISSEYS Federführung THE SMITHS nannten, ein, während auch die folgenden Titel sich dadurch auszeichnen, dass sie sich aus musikalischer Sicht grundsätzlich von dem vorangegangenen unterscheiden.

Bei „Die Erwachsenen“ könnte man glattweg schwören, dass A FLOCK OF SEAGULLS einen neuen Pop-Song in deutscher Sprache aufgenommen hätten, der im Gegensatz zu den schwelgenden Schönwetter-Synthi-Melodien nicht mit textlicher Seemöwen-Romantik aufwartet, sondern der knallharten Feststellung: „Man kann den Erwachsenen nicht trauen / Ihr Haar ist schütter / Ihre Hosen sind es auch / Wir werden viele Mauern bauen / Denn sie sind grauenvoll [...] Neue Hymnen / Alte Lügen“. Natürlich ist, wie bei allen Lowtzow-Texten, wieder der eindeutig im Vorteil, der beim Hören um die Ecke denkt, bis er bei unser aller Mutti und ihrer Politiker-Gilde ankommt, die neuerdings sogar mithilfe von Bundesstaatsanwälten der Presse ihre Freiheit zu nehmen versuchen. Eben genauso wie es die Erwachsenen mit ihren Babys tun, doch für die gilt: „Sie erziehen uns nicht / Wir sind Babys / Wir spucken ihnen ins Gesicht“!

Überhaupt sind die Texte wieder kleine lyrische Meisterwerke, die ihre verbale Streitaxt rausholen, aber nicht etwa um mit brutalem Vulgarismus zuzuschlagen, sondern auf der ständig die warnende Klinge mit kunstvollen Versen glitzert.
Während man zu DDR-Zeiten - in denen ich nicht wirklich nur das Vergnügen hatte, groß zu werden - die versteckten Botschaften zwischen den Zeilen suchen musste, muss man diese bei TOCOTRONIC hinter den Zeilen suchen. Ein großer Unterschied, denn in einer Diktatur ließ die knallharte Zensur vieles ungesagt zwischen den Zeilen stehen, in unserer Demokratie gehört zur Kunst eines guten Textes, nicht gleich seine eindeutigen Keulen-Weisheiten dem Hörer um die Ohren zu hauen, sondern sie mitunter fast in kryptisch anmutenden Formulierungen zu verstecken, die nur durch den gemeinsamen Einsatz von Hirn und Ohr entschlüsselt werden können. TOCOTRONIC sind eine der wenigen Bands, die diese lyrische Meisterschaft beherrschen, ohne am Ende als pseudo-intellektuelle singende Klugscheißer, von denen so einige auch aus der Hamburger Schule kommen, dazustehen, wobei „Solidarität“ eine zärtliche, von Streichern eingerahmte Ballade - für mich einer der beeindruckendsten Songs des an beeindruckenden Songs reichen roten Albums - ist: „Ihr [...] / Die ihr jede Hilfe braucht / Unter Spießbürgern Spießruten lauft / Von der Herde angestiert / Mit ihren Fratzen konfrontiert / [...] Ihr habt meine / Solidarität“.
Eine beliebige Fortsetzung dieses in Musik gekleideten Lyrik-Bandes wäre ohne Weiteres möglich, egal, ob wir uns nun in „Haft“ oder auf „Jungfernfahrt“ begeben und als „Rebel Boy“ erkennen, dass „Sie irren“ und bald im „Chaos“ versinken.

Doch nicht nur für Menschen, die tatsächlich in unserer heutigen Zeit noch leidenschaftlich und völlig freiwillig Gedichte lesen, ist das aktuelle TOCOTRONIC-Album ein Genuss. Auch Freunde guter Musik, die sich ohne jegliches Mainstream-Gehabe zwischen melodiösem Pop bis anspruchsvollem Indie-Rock bewegt, lässt das Album nicht los, da es neben dem musikalischen Abwechslungsreichtum auch jede Menge Überraschungen bereithält. Das beginnt bereits mit Lowtzows Gesang, der bisher noch nie so ausgeprägt beeindruckte und in den unterschiedlichsten Artikulationen bis zur gänzlichen Perfektion in den tiefsten und allerhöchsten Stimmlagen vorgetragen wird und endet in der musikalischen und instrumentalen Vielfalt, die jedem einzelnen der zwölf offensichtlichen und dem einen versteckten Lied(er), ein einzigartiges Gesicht verleiht, das den „stierenden Fratzen aus der Herde“ gehörig Paroli bietet.

„Pädagogisch wertlos ist das Ergebnis dieser Nacht!“, heißt es im letzten Song „Diese Nacht“!
Allerdings folgt dem offiziell letzten Titel nach einer akustischen Wanderung mitten durch die Natur mit Vogelgezwitscher, fließendem Bächlein und einem Brummer, der seit PINK FLOYDs „UmmaGumma“ bereits Musik-Geschichte geschrieben hat, noch eine mit akustischer Gitarre eingespielte, Ironie-triefende „Hidden-Track“-Ballade, welche so außergewöhnliche Zeilen, wie „Die Zeit ist ein Meister aus Deutschland!“ oder „Wir sehen unsere Spiegelungen im tiefen Brunnen und im feuchten, modrigen, von Tau liebkostem Wiesengrund!“, aufzuweisen hat.
„Chapeau!“, kann man dazu nur sagen und schreiben!
Pädagogisch wertvoll ist dieses TOCOTRONIC-Album jedenfalls allemal, weil es eben nicht nach dem alternativlosen Geschwafel unsere politischen Über-Mutti klingt.
Nur welcher Pädagoge weiß das schon?
Und welcher seiner Schüler erst?

FAZIT: Willkommen in der Hamburger Schule von TOCOTRONIC. Eine Schule, in die man, vorausgesetzt man besitzt die Neugier auf Neues und den Mut andere Wege auch mal mit der Hilfe unbequem Angepasster zu beschreiten, nicht nur gerne geht, sondern die auch über ein System verfügt, in dem Lernen und Lehren gleichermaßen Freude bereitet, vielleicht weil es dort eben keine klugscheißerisch erhobenen Besserwisser-Zeigefinger, die höchstens eine Stinkefinger-Wirkung hinterlassen, gibt, sondern ein Miteinander bei dem beide Seiten, so traurig vieles oftmals auch erscheinen mag, noch herzhaft mit- und übereinander lachen und vor allem voneinander lernen können, weil sie sich zuhören.
Auf der TOCOTRONIC-Homepage darf man lesen:
„Wer hätte gedacht, dass aus drei hässlichen Entlein (Anspielung auf das 97er TOCOTRONIC-Cover zu „Es ist egal, aber“ - T.K.) vier stolze schwarze Schwäne werden? Wir am wenigsten!“
Ich, auch nicht! Aber sie haben diese Meisterleistung tatsächlich vollbracht, auch wenn ihnen das einige ihrer ewig auf jung getrimmten Fans der ersten Jahre wahrscheinlich ziemlich übel nehmen werden!

PS: Übrigens steht auf der Happinez-Glücksausgabe der Satz: „Dein Lächeln verändert die Welt!“
Ein klein bisschen habe ich dank solch gelungener Musik-Überraschung(en) nun auch zu dieser „Weltveränderung“ beigetragen, wofür ich Mia und Greta sehr dankbar bin!

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 4498x gelesen, veröffentlicht am )

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  • 4-6 Punkte: Streckenweise anhörbar, Kaufempfehlung nur für eingefleischte Fans
  • 7-9 Punkte: Einige Lichtblicke, eher überdurchschnittlich, das gewisse Etwas fehlt
  • 10-12 Punkte: Wirklich gutes Album, es gibt keine großen Kritikpunkte
  • 13-14 Punkte: Einmalig gutes Album mit Zeug zum Klassiker, ragt deutlich aus der Masse
  • 15 Punkte: Absolutes Meisterwerk - so was gibt´s höchstens einmal im Jahr
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Wertung: 13 von 15 Punkten [?]
13 Punkte
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Tracklist:
  • Prolog
  • Ich öffne mich
  • Die Erwachsenen
  • Rebel Boy
  • Chaos
  • Solidarität
  • Spiralen
  • Sie irren
  • Haft
  • Zucker
  • Jungfernfahrt
  • Diese Nacht

Besetzung:

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  • keine Interviews
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