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The Ocean: Precambrian (Review)

Artist:

The Ocean

The Ocean: Precambrian
Album:

Precambrian

Medium: CD
Stil:

Postrock / Hardcore / Experimentell

Label: Metal Blade
Spieldauer: 83:46
Erschienen: 09.11.2007
Website: [Link]

Teil 3 – Klimax

I. Einleitung
Es gibt Zeitspannen, die für Menschen unvorstellbar sind. Romantisiert wird das Zeitalter vor 500 Jahren, als man mit Rüstungen in die Schlacht zog und Drachen erschlug. Mystifiziert werden die Griechen, die es bereits mehrere Jahrtausende vor unserer Zeit gegeben hatte und deren Schriften heute immer noch aktuell sind. Irgendwann verschwimmen die Grenzen, je weiter wir zurück gehen. 2000 B.C., 4000 B.C., 8000 B.C. ... die Reise geht immer schneller in die Vergangenheit, bis zu dem Moment, in dem ein Menschenaffe - vielleicht in Stanley Kubriks legendärer Momentaufnahme - das Werkzeug entdeckt hatte, darüber hinaus, Jenseits der Eiszeit, wir überschreiten die Auslöschung der Dinosaurier und bewundern deren Entstehung, allerdings Rückwärts aufgenommen, sie gehen wieder zurück ins Wasser, bilden sich zurück, die Riesenfische werden immer kleiner, werden zu Trilobiten, Quallen, Algen, Bakterien... Zeitpunkt Null.

Vor 4600 Millionen Jahren: Die Erde ist eine glühende Kugel im All, die Sonne wurde aus einem Nebel aus Sternenstaub frisch geboren, Gesteinsbrocken bombardieren unseren jungen Planeten ununterbrochen. Eine feste Erdkruste oder eine Atmosphäre gibt es nicht, die Außentemperatur beträgt mehrere hundert Grad, der Tag dauert nicht länger als zehn Stunden, da die Rotation noch stark beschleunigt wird und ein gigantischer Miniplanet stürzt auf die Oberfläche – aus den weggeschleuderten Brocken bildet sich unser heutiger Mond.
Willkommen im Hadean, zu Deutsch „Hölle“. Und hier setzt das neue Werk von THE OCEAN COLLECTIVE an...

II. Das Monster
2007, nach einem Jahr des Tourens und Promotens für das härtere Vorgängerwerk „Aeolian“, war die Zeit reif für ein neues, ambitioniertes Projekt des deutschen Post-Metal Kollektivs THE OCEAN. „Fluxion“, „Aeolian“ – Der Idee, die vier Elemente als Paten zu verwenden, verfolgten schon MASTODON. Feuer und Erde, ein Kreislauf aus Zerstörung und Wiederaufbau, Schmelzen und Erkalten. Für Robin Staps war der Gedankengang als leidenschaftlicher Geologe klar – das Präkambrium bietet mit den unnahbaren Szenarien einer Höllenwelt, die sich langsam in ein Paradies transformiert, mehr Inspiration und Ideen als jede ausgelutschte Selbstvernichtungsphantasie modernen Metals.

Und so setzte das Berliner Kollektiv, inzwischen auf 28 Gastmusiker und –sänger angewachsen, jede Periode der Erdfrühzeit in einen Song um. Das Ergebnis: „Precambrian“, ein an Größenwahn grenzendes Doppelalbum, ein Monster, ein Werk, das in seiner überladenen, epischen Breite und Größe jeden CD-Player in Stücke zu sprengen vermag.

III. Mutation
Nach dem härteren und direkteren Vorgänger „Aeolian“, welches ungeniert mit Postcore-Gebolze spielte, mussten THE OCEAN einen Gang herunterfahren und wieder akustisches Instrumentarium wie Streicher, Saxofon und Glockenspiel in den Sound integrieren – ansonsten hätte dem Kollektiv wohl der künstlerische Freitod gedroht.

Robin Staps führt THE OCEAN in eine eigens ausgehöhlte Nische, deren Wände von Meistern wie NEUROSIS, ISIS, OPETH, MESHUGGAH, GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR und MASTODON ausgekleidet wurde. Namen sind Schall und Rauch, sprach einst Goethe und so sagen die Einflüsse und „klingt-so-wie“ gar nichts über „Precambrian“ aus. Sicher tönt der eine oder andere Riff nach grimmigem Sludge, aber die Farbpalette eines Malers besteht schließlich in seiner Basis auch nur aus drei Grundfarben.

THE OCEAN sind also mutiert. Von einem kaum beachteten Act aus deutschen Landen zu einem immer größer werdenden Monster, das seine Duftmarken zu setzen beginnt.

IV. Das Album
A) Hadean / Archean
Precambrian“ ist thematisch klug aufgeteilt in CD 1, welche die Erde in ihrer frühesten Phase darstellt und in CD 2, einem fortgeschrittenen Stadium, in dem Ozeane den Planet bedeckten und langsam abkühlten.

Legt man also die erste Scheibe ein, mit 22 Minuten eigentlich eine EP, sollte man das Bild einer riesigen Kugel aus glühendem Gestein und Magma vor sich haben. „Hadean“, mit „The Long March Of The Yes Men“ untertitelt (fast jeder Song des Albums trägt einen einprägsameren Zweittitel), kracht gewaltig drauflos und fängt da an, wo „Aeolian“ aufgehört hat. Heftig riffender Posthardcore mit progressivem Unterton, doch Veränderungen sind bereits deutlich zu spüren. Der Sound auf „Precambrian“ erzeugt einen schrägeren, raueren Vibe, fast verspielt klingen die fünf ersten Songs, immer wieder überraschen die Gitarristen oder die Rhythmussektion mit ungewöhnlichen Ideen. „Man And The Sea“ ist straighter Hardcore, Kunst ist das noch nicht, aber in der Vorfreude auf das Kommende macht dieser Krach umso mehr Spaß. Mit „Legions Of Winged Octopi“ und „Burn The Duck Of Doubt“ schließt das Zeitalter des Archean. Die Erde kühlt ab. Das Leben beginnt als eine zufällige Ansammlung von Molekülen in der Ursuppe.

B) Proterozoic
Einschub: Robert Staps hat beileibe keine Geographiestunde für Metalheads geschrieben. Seine Texte drehen sich viel mehr um philosophische Themen. Dazu hat er lyrische Texte des Surrealisten Comte de Lautréamont übernommen, ebenso wie Gedichte von Nietzsche („Rhyacian“) und Georg Trakl („Ectasian). Das textliche Konzept erhält dadurch eine zwar intellektuelle aber auch umfassendere, grenzüberschreitende Färbung.

Proterozoic. Man stelle sich das Bild von riesigen, dampfenden Ozeanen vor, in die langsam kriechende Lavaströme fließen und zischend erkalten. Erste Lebensformen, primitive Einzeller ohne Zellkern, entstehen. „Siderian“ und „Rhyacian“ eröffnen die zweite CD fulminant – endlich gibt es wieder Streicher und sogar ein Saxofon. Das zehnminütige „Rhyacian“ stellt alles, was THE OCEAN zuvor produzierten in den Schatten. Abwechslungsreich, gefühlvoll und mit Liebe zum Detail, zwischendurch wieder hart und schleppend, zieht der Song viel zu schnell vorbei. Wenn es zum – verzeiht das Wort, aber auf „Precambrian“ trifft es hundertprozentig zu - epischen Finale kommt und einem der Kopf mit unglaublicher Präzision abgeschraubt wird, weiß jeder, dass „Precambrian“ nun begonnen hat.

Zuerst stolpert man fragend durch scheinbar wirre 60 Minuten, doch nach und nach wachsen die Songs zusammen und bilden den ersten Riesenkontinent Rodinia. Tektonische Platten verschieben sich, drücken sich über- und untereinander, Gebirge werden aufgeworfen, hin und wieder kracht ein Meteorit auf die Erde und Risse durchziehen die noch junge Erdkruste.

Als Beschreibung für die gebotene Musik passt das ganz gut. Mit Ausnahme von den zwei ruhigeren Stücken „Siderian“ und „Cryogenian“ (im letztgenannten Zeitalter bedeckte eine gewaltige Eisschicht die Erde) und dem weniger überzeugenden „Statherian“ enthält „Proterozoic“ mehr Ideen als die ersten beiden THE OCEAN-Alben zusammen. „Rhyacian“, „Orosirian“, „Calymmian“, „Ectasian“ und „Tonian“ – Songs, die Spannung aufbauen, permanente musikalische Orgasmen auslösen und die zerbrechliche Stimmung stets gekonnt aufbrechen und in kontrollierten Dosen tonnenschwere Mammutriffs wie Gletscher vor sich her wälzen. Und ab und zu überfällt einen dieser magische Moment, in dem alles zusammenpasst, es nicht besser sein könnte. „Cryogenian“ beschließt die zweite Disc mit kammermusikalischem Ausklang. Das Leben wird in den Urmeeren sich selbst überlassen und das längste Kapitel der Erdgeschichte, das Präkambrium, abgeschlossen.

V. Alles in Allem
Precambrian“ ist THE OCEAN in vollendeter Form. Mehr als 80 Minuten reinste Ekstase auf einem Balanceakt zwischen Härte und Leichtigkeit, Düsternis und Licht. Sicher könnten einige Arrangements konsequenter aufgebaut sein, sicher einige Melodien feiner herausgearbeitet werden. Doch der Gesamteindruck ist absolut stimmig. Wie Robin Staps im Booklet geschrieben hat, ist „Precambrian“ auch ein Statement gegen eine Kultur, die Musik als bloße Datenansammlung degradiert. Musik entfaltet eine Wirkung, die das Leben eines jeden bereichert, der daran teilhaben will. Vielleicht macht „Precambrian“ unsere Leben nicht reicher oder schöner, öffnet aber eine Welt, die in ihrer Finsternis so viel mehr zu bieten hat als der graue (Radio)Alltag.

FAZIT: Mit „Precambrian“ ist das dritte Kapitel in der OCEAN-Geschichte abgeschlossen. Das Kollektiv ist an seinem künstlerischen Höhepunkt angelangt. Die Zutaten, die auf „Fluxion“ bereits gegeben waren, sind mit der nötigen Härte von „Aeolian“ und einer kräftigen Portion Postrock vermengt worden. „Precambrian“ ist das relativ verspielte und experimentelle Ergebnis dieser Arbeit, ein Doppelalbum, das zwar nicht immer voll auf die zwölf geht, aber erstaunlich spannend und dramatisch ausgefallen ist. THE OCEAN COLLECTIVE haben einmal mehr bewiesen, dass Kunst sehr wohl mit Brutalität zusammenpasst und dass Geographie alles andere als ein langweiliges Schulfach ist. Nichts ist so geheimnisvoll wie die Zeit, als unser blauer Planet aus einem unvorstellbaren Inferno hervorgegangen ist – was uns im Angesicht dieser Äonen und Millionen von Jahren klein und nichtig macht.

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Anmerkung: Die Besetzung des OCEAN COLLECTIVE ist auf „Precambrian“ sehr unübersichtlich. Aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichte ich deshalb auf eine detaillierte Wiedergabe der einzelnen Gastmusiker und beschränke mich auf die aktuelle 2009er Besetzung.

Benjamin Feiner (Info) (Review 9057x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 12 von 15 Punkten [?]
12 Punkte
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Tracklist:
  • CD 1: Hadean / Archean
  • Hadean / The Long March Of The Yes Men
  • Eaoarchean / The Great Void
  • Paleoarchean / Man And The Sea
  • Mesoarchean / Legions Of Winged Octopi
  • Neoarchean / To Burn The Duck Of Doubt
  • -
  • CD 2: Proterozoic
  • Siderian
  • Rhyacian / Untimely Meditations
  • Orosirian / For The Great Blue Cold Now Reigns
  • Statherian
  • Calymmian / Lake Disappointment
  • Ectasian / De Profundis
  • Stenian / Mount Sorrow
  • Tonian / Confessions Of A Dangerous Mind
  • Cryogenian

Besetzung:

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Kommentare
Proggus
gepostet am: 20.07.2013

User-Wertung:
12 Punkte

>>Anmerkung: Die Besetzung des OCEAN COLLECTIVE ist auf „Precambrian“ sehr unübersichtlich. Aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichte ich deshalb auf eine detaillierte Wiedergabe der einzelnen Gastmusiker und beschränke mich auf die aktuelle 2009er Besetzung>>

Das ist aber - mit Verlaub - ziemlicher Unsinn, weil Information ohne größeren Sinn. Nur Staps und Pilat sind hier als Musiker zugange. Man hätte ja vielleicht neben den Beiden noch Liessmann und Beels als Kernband nennen können plus eben einem Haufen Gastmusiker.

Ansonsten ein gelungenes Review eines außerordentlichen Albums.
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